3. Ärztliche Diagnose und Befunde
    – Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

3.2. Sexuelle Gewalt

Nikolaus Weissenrieder

3.2.1. Definition und Epidemiologie

In der wissenschaftlichen Literatur werden für sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Definitionen und Kriterien genannt. Im Leitfaden wird sexuelle Gewalt als sexuelle Handlung definiert, die an oder vor einem Kind bzw. Jugendlichen entweder gegen dessen Willen vorgenommen wird oder der das Kind bzw. der Jugendliche aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann (siehe auch Ziffer 1.1.). Sexuelle Gewalt ist in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden und oft eine gut vorbereitete, planvoll und bewusste, häufig wiederholte Tat.

Jedes 3. bis 4. Mädchen,
jeder 7. bis 8. Junge erfährt sexuelle Gewalt

Exakte, wissenschaftlich fundierte Zahlen zur sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche liegen nicht vor (siehe auch Ziffer 1.2.). Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) sind im Hinblick auf das tatsächliche Ausmaß nur begrenzt aussagefähig, da gerade in diesem Deliktbereich die Dunkelziffer hoch eingeschätzt werden muss. Bedingt durch eine nahe Beziehung zu den Tätern haben die Opfer oft nicht die Möglichkeit, auf den Missbrauch aufmerksam zu machen bzw. sich diesem zu entziehen. Wissenschaftlich gesichert erscheint heute durch Untersuchungen in den USA und Europa, dass jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder siebte bis achte Junge sexuelle Übergriffe erfährt.

Jungen als Opfer

Dass auch Jungen Opfer sexueller Gewalt werden, war lange nicht hinreichend bekannt, auch in der PKS sind Jungen als Opfer sexueller Gewalt wahrscheinlich noch weniger repräsentativ erfasst als Mädchen (siehe auch Ziffer 1.2.). Für Jungen ist der Missbrauch zusätzlich mit dem Stigma der Homosexualität behaftet. Außerdem wird von ihnen erwartet, keine Schwächen zu zeigen und sich zu wehren. Aus diesen Gründen tun sie sich besonders schwer, sich als Opfer zu offenbaren.

! Hinweis:

Vertiefende Informationen zum Thema Jungen als Opfer sexualisierter Gewalt enthält die Dokumentation der Fachtagung „Es kann sein, was nicht sein darf…“, die auf Initiative von kibs, Kinderschutz e. V. unterstützt vom StMAS am 19./20.11.2009 in München durchgeführt wurde. kibs ist eine spezielle Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle in Bayern für männliche Opfer sexueller Gewalt. Weitere Informationen hierzu sind abrufbar unter: www.kibs.de.

Machtgefälle Täter - Opfer

Die Täter nutzen in besonderem Maße ein Macht- und Abhängigkeitsverhältnis aus. Dabei wenden sie meist keine körperliche Gewalt an, oft erschleichen sie sich auch das Vertrauen des Kindes bzw. des Jugendlichen und der Eltern. Nach der Tat werden die Kinder oder Jugendlichen oft mit Drohungen zur Geheimhaltung verpflichtet. Häufig wird ihnen auch eingeredet, niemand werde ihnen glauben und sie würden mit ihrer Behauptung ganz alleine dastehen. Wenn nicht unter Zwang, so werden sie mit Geld, Geschenken oder Versprechungen dazu gebracht, sexuelle Handlungen zu erdulden oder selbst sexuelle Handlungen an sich oder dem Täter vorzunehmen. Auf diese Weise erfolgt zunächst eine scheinbare Aufwertung und sie fühlen sich als etwas Besonderes. Gleichzeitig suchen sie die Schuld für die sexuellen Übergriffe bei sich selbst und schämen sich dafür. Schuld- und Schamgefühle, aber auch die Angst, die Drohungen könnten wahr gemacht werden, können zu einer tiefgreifenden Verunsicherung führen und machen es den betroffenen Kindern und Jugendlichen nahezu unmöglich, sich einer dritten Person anzuvertrauen. Oftmals schützen sie die Täter, um den Familienzusammenhalt nicht zu gefährden.

Sexuelle Gewalt unter
Kindern und Jugendlichen

In den letzten Jahren ist das Problem sexuell übergriffiger Kinder und Jugendlicher zunehmend auch in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Schwierigkeiten bereitet hier vor allem die Abgrenzung von missbräuchlichen zu experimentellen, entwicklungsbedingten sexuellen Handlungen (z. B. bei sogenannten Doktorspielen).

! Hinweis:

Zur Problematik sexualisierter Gewalt unter Kindern und Jugendlichen siehe insbesondere Ziffer 1.2. sowie die dort genannten Hinweise auf weiterführende Informationen.

Inzest in der Familie

Als begünstigende Umstände für Inzest gelten insbesondere eine Sexualisierung der familiären Atmosphäre, ein leichter Zugang für Kinder oder Jugendliche zu pornografischem Material und das Miterleben von sexuellen Handlungen zwischen den Eltern oder im engeren Umfeld. Unklare hierarchische Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und unangemessene Geschlechtergrenzen verhindern, dass Kinder und Jugendliche eine eigene geschützte Identität entwickeln. Einem besonderen Tabu unterliegt der Mutter-Sohn-Inzest.

Kinder und Jugendliche
mit Behinderung

Einer erhöhten Gefahr, sexueller Gewalt im familiären Umfeld sowie in Einrichtungen ausgesetzt zu sein, besteht für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, insbesondere wenn sie auf die Pflege und Versorgung anderer angewiesen sind. Die Grenzen zwischen Pflege (z. B. Intimpflege) und sexueller Gewalt können fließend sein. Laut der Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ der Universität Bielefeld waren Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Jugend ausgesetzt als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt.

Belastungsfaktoren sind unspezifisch

Besonders gefährdet sind Mädchen und Jungen, die sich sehr brav verhalten und über ein gering ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen. Sie erscheinen als „bequeme Opfer“, weil sie keine Widerworte geben und gelernt haben, leise, freundlich und fügsam zu sein. Man hat ihnen nicht beigebracht, für sich selbst einzutreten oder „Nein“ zu sagen, sich zu wehren oder eine Szene zu machen. Jungen sind besonders gefährdet, wenn sie keine positive Beziehung zu sich und ihrem Körper haben, wenn ihnen positive Bindungserfahrungen fehlen, die Sexualaufklärung mangelhaft ist, sie in der häuslichen Umwelt überbehütet, aber auch vernachlässigt werden. Zu den generellen Risikofaktoren in Bezug auf Kindeswohlgefährdung siehe Ziffer 1.3.

3.2.2. Formen sexueller Gewalt

Die klassischen Formen der sexuellen Gewalt werden in sogenannte „Hands-on“- bzw. in „Hands-off“-Taten unterteilt.

Zu den Hands-on-Taten gehören sexuelle Handlungen mit Körperkontakt, z. B.:

  • Berühren von Brust- und Genitalbereich,
  • orale, vaginale oder anale sexuelle Handlungen,
  • Einführen von Gegenständen in Anus, Vagina oder Mund,
  • Masturbation am Täter durch Kinder bzw. Jugendliche oder vice versa,
  • Anfertigen von pornografischen Aufnahmen.

Zu den Hands-off-Taten gehören sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt, z. B.:

  • jede Form von Exhibitionismus,
  • Anfertigen von sexualisierten Aufnahmen des Opfers,
  • Betrachten von pornografischen Aufnahmen mit Kindern oder Jugendlichen,
  • verbale sexuelle Gewalt.
Neue Formen, Dimensionen
und Verbreitungswege

In den letzten Jahren ist sexuelle Gewalt in den sogenannten Neuen Medien zunehmend als neue Gewaltform aufgetreten (siehe auch Ziffer 1.4.). In und mit diesen Medien werden zahlreiche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verbreitung und Anfertigung von pornografischen Produkten sowie Cyber-Bullying begangen. Sexuelle Gewalt findet dabei vor allem im Internet und seinen Kommunikationskanälen (WEB 2.0 etc.) sowie im Bereich Mobiltelefone und assoziierten Kommunikationsformen wie SMS oder MMS statt.

! Hinweis:

Ausführliche Informationen zu Gewalt in den Neuen Medien sowie zu Ansprechpartnern, Beratungsangeboten und weiterführenden Informationen siehe insbesondere bei Ziffer 1.4. sowie die dort abrufbaren vertiefenden Informationen.

Die möglichen Auswirkungen des frühzeitigen und regelmäßigen Konsums von allen Arten der Pornografie auf Kinder und Jugendliche werden in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Einige Studien weisen eine frühere Aufnahme von speziellen Sexualpraktiken wie Oral- oder Analverkehr nach. Der Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs findet dagegen nach der Studie „Jugendsexualität 2010“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nicht früher statt. Auch die Anzahl der Schwangerschaften oder Schwangerschaftsabbrüche bei Kindern und Jugendlichen ist nicht angestiegen.

Cyber-Grooming

Eine große Gefahr stellen sexuelle Übergriffe und Kontaktaufnahmen bei der Online-Kommunikation dar. Tatsache ist, dass z. B. erwachsene „Chatter“ im Internet gezielt nach minderjährigen Opfern suchen („Cyber-Grooming“, siehe auch Ziffer 1.4.). Sie geben sich in Chats oder Online-Communitys gegenüber Kindern oder Jugendlichen als gleichaltrig aus, um sich so ihr Vertrauen zu erschleichen – meist mit dem Ziel, sich in der realen Welt mit ihnen zu treffen und sie zu missbrauchen.

Kinderpornografie

Die Herstellung kinderpornografischer Produkte (z. B. Videos, Bilder, Magazine), der immer sexuelle Gewaltanwendung gegenüber Kindern vorausgeht, ist keine neue Erscheinungsform. Mit Einzug der Neuen Medien hat sie in den vergangenen Jahren jedoch eine ungeahnte Verbreitung erfahren.

3.2.3. Untersuchung und Befunderhebung

Fachliche Kompetenz
bei der Befunderhebung

Auf Grund der altersspezifisch eingesetzten diagnostischen Verfahren und der zu erhebenden Befunde werden diese nach Altersstufen getrennt dargestellt. Für alle Altersstufen gilt, dass sich Ärztinnen und Ärzte, bevor sie eine Diagnostik bei vermuteter sexueller Gewalt durchführen, sicher sein sollten, die fachliche Kompetenz für die Untersuchung aufzuweisen.

Sie müssen spezifische Kenntnisse über die normale Entwicklung des weiblichen Genitales sowie entwicklungsbedingte Varianten haben. Zudem sollten sie über ein fundiertes Wissen bezüglich der anatomischen und entwicklungsbedingten Besonderheiten des kindlichen und jugendlichen Genitales, ein erweitertes Fachwissen über die endokrinologische Entwicklung von Mädchen und jungen Frauen oder Jungen sowie bezüglich ihrer psychischen und psychosozialen Entwicklung verfügen. Wichtig sind die Kenntnis und der sichere Umgang mit den notwendigen Untersuchungsmethoden, wie z. B. die Ganzkörperuntersuchung, und spezialisierte Untersuchungsgänge wie die korrekte Abstrichentnahme aus der Vagina oder die Vaginoskopie.

Bei hinreichendem Verdacht sollte die Untersuchung zur genitalen Befunderhebung möglichst durch in der Kinder- und Jugendgynäkologie erfahrene Fachärztinnen oder Fachärzte bzw. eine spezialisierte klinische Einrichtung vorgenommen werden.

! Hinweis:

Informationen zu in Bayern entsprechend ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten sind in Kapitel 6 zu finden.

Untersuchung kann in der
Regel sorgfältig geplant werden

Das nachfolgend dargestellte Vorgehen sollte vor allem dann eingehalten werden, wenn die vermutete sexuelle Gewaltanwendung bei Kindern mehr als 24 Stunden – bei Jugendlichen mehr als 72 Stunden – zurückliegt und bei der Genitalinspektion keine Verletzung nachweisbar war. Forensische Überlegungen treten dann vorerst in den Hintergrund und eine kinder- oder jugendgynäkologische Konsiliaruntersuchung bzw. Jungenuntersuchung kann sorgfältig geplant werden.

Besteht keine Möglichkeit, die Untersuchung durch Fachärztinnen oder Fachärzte, die auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendgynäkologie erfahren sind, bzw. eine spezialisierte klinische Einrichtung vornehmen zu lassen, kann der in Kapitel 7 beigefügte Dokumentationsbogen hilfreich sein.

Untersuchung bei Verdacht
auf sexuelle Gewalt

Im Falle eines Verdachts auf sexuelle Gewalt werden bei der somatischen Untersuchung häufig keine beweisrelevanten Befunde erhoben. Trotzdem sollte hier immer eine Untersuchung angestrebt werden. Ein eindeutiger, körperlich nachweisbarer, beweisender Befund darf auf keinen Fall übersehen werden. Die Untersuchung darf grundsätzlich nicht gegen den Willen des Kindes oder Jugendlichen erfolgen.

3.2.3.1. Untersuchungstechnik nach Altersstufen

Ganzkörperuntersuchung und
Erhebung eines Genitalstatus

Bei Verdacht auf sexuelle Gewalt setzt sich die somatische Untersuchung aus einer Ganzkörperuntersuchung und der Erhebung eines Genitalstatus zusammen. Bei der Ganzkörperuntersuchung wird der Fokus auf die Körperteile gerichtet, die häufig in sexuelle Aktivitäten einbezogen sind (z. B. Brustbereich, Gesäß, Oberschenkelinnenseite, Mund). Die Erhebung des Genitalstatus besteht vorwiegend aus einer genauen Inspektion der Genital- und Analregion.

Vaginale Untersuchungen nur
durch erfahrene Fachärzte

Eine vaginale Untersuchung mit einem Vaginoskop wird bei der Verdachtsdiagnose „sexuelle Gewalt“ nur in ausgewählten Fällen erforderlich sein. Die Untersuchung muss aber bei allen Fällen einer vaginalen Blutung oder Verletzung sowie eines rezidivierenden putriden Genitalausflusses durch in der Kinder- und Jugendgynäkologie erfahrene Fachärztinnen oder Fachärzte durchgeführt werden.

Bei der Untersuchung sollte bedacht werden, dass die betroffenen Kinder oder Jugendlichen eine körperliche Untersuchung als einen weiteren Übergriff erleben können. Andererseits haben viele Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt erfahren haben, ein gestörtes Körperselbstbild und können durch eine ärztliche Untersuchung einen positiven therapeutischen Effekt erfahren, wenn ihnen durch die Untersuchung ihre körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, Intaktheit und Normalität bestätigt wird.

3.2.3.2. Körperlicher Befund nach Altersstufen

Körperlicher Befund

Die Untersuchung von Kindern und Jugendlichen und die Interpretation genitaler Befunde bei Verdacht auf sexuelle Gewalt erfordern die Kenntnis darüber, wie die Untersuchenden und die Patienten selbst bei Inspektion des Genitales dessen „Aussehen“ beeinflussen können.

Neugeborene befinden sich bis etwa zur dritten Lebenswoche in der sogenannten Neonatalperiode, in der noch östrogenhaltige Hormone der Mutter einwirken. Danach, bis etwa zum achten bzw. neunten Lebensjahr, ist das weibliche Genitale in der hormonellen Ruheperiode. Ab dem achten bzw. neunten Lebensjahr (je nach Entwicklungsverlauf des Mädchens früher oder auch später) unterliegt die Entwicklung des Genitales der eigenen hormonellen Beeinflussung (Reifungsperiode). Die „hormonelle Reife“ kann anhand eines Ausstriches des Vaginalsekretes unter dem Mikroskop bestimmt werden.

Der Hymen ist in der Ruheperiode schmerzanfällig und verletzbar. Der Hymen weist einen hohen Saum auf, der Rand des Saumes ist glatt. Der Saum ist glänzend und durchscheinend. Eine Penetration mit dem Penis in diesem Stadium ist in der Regel nur unter Setzen von Verletzungen möglich. Der transhymenale Durchmesser nimmt mit dem Lebensalter zu. Allerdings kann der Durchmesser durch die Untersuchungstechnik und das Kind selbst beeinflusst werden. Durch Traktion der Schamlippen kann der transhymenale Durchmesser deutlich größer erscheinen. Das Kind kann durch Anspannen oder Entspannen der Beckenbodenmuskulatur die Hymenalöffnung kleiner oder größer erscheinen lassen.

Differentialdiagnosen
berücksichtigen

Differentialdiagnostisch müssen Erkrankungen ausgeschlossen werden, die in ihrem Befund gewaltspezifischen Symptomen ähnlich sind. Dies betrifft zum einen Vulvitiden bzw. Vulvovaginitiden, die durch bakterielle Infektionen bzw. Hygienedefizite ausgelöst sind und zu einer massiven Rötung im Anogenitalbereich führen können. Durch Vulvovaginitiden (z. B. hämolysierende Streptokokken-A-Infektionen) können auch vaginale Blutungen oder am Anus einen sogenannten „Analscharlach“ (massive perianale kreisrunde Rötung mit Rhagaden) auslösen. Veränderungen im Analbereich wie Fissuren oder Blutungen können auch im Rahmen einer Obstipation oder einer Darmerkrankung wie Morbus Crohn verursacht worden sein. Zum anderen müssen Hauterkrankungen im Bereich der Vulva, des Präputiums und des Anus ausgeschlossen werden, die Befunde wie bei sexueller Gewalt hervorrufen. Dies betrifft z. B. den Lichen sclerosus, der zu Rötungen, Einblutungen (Petechien, Hämatome) und Rhagaden anogenital führen kann und mit einem Peak im dritten bis siebten Lebensjahr beginnt.

Selbstverletzungen im Hymenalbereich durch Manipulationen von Kindern oder Jugendlichen (z. B. Einführen von Gegenständen oder Benutzung von Scheidentampons) sind extrem selten. Verletzungen des Hymens beim Sport (z. B. Spagat) treten bei normalen anatomischen Verhältnissen in der Regel nicht auf. Es gibt auch kein angeborenes Fehlen des Hymens.

3.2.3.3. Psychischer Befund nach Altersstufen

Psychischer Befund

Generell gibt es mehrere Symptome, die den Verdacht auf eine Gewalthandlung wecken können. Überängstliches Verhalten, starke körperliche oder emotionale Abwehr oder in der Untersuchungssituation nicht adäquate Reaktion von Kindern und Jugendlichen können auf Stress und Anspannung sowie eine belastende Lebenssituation hinweisen. Viele psychische Symptome, die bei Kindern und Jugendlichen auftreten, sind unspezifisch und können durch unterschiedliche Ursachen hervorgerufen werden. Nicht bei jedem einzelnen Symptom ist der Verdacht auf eine sexuelle Gewaltanwendung als primäre Ursache diagnostisch abzuklären. Erst die Gesamtschau der erhobenen Risikofaktoren sowie der psychischen und körperlichen Befunde führt zur differentialdiagnostischen Abklärung einer sexuellen Gewaltanwendung bei Kindern und Jugendlichen.

3.2.4. Dokumentation

Es hat sich bewährt, bei dringendem Verdacht auf sexuelle Gewalt einen standardisierten Prozess einzuhalten, der nach den persönlichen Vorgaben der untersuchenden Ärztinnen und Ärzte variiert werden kann. Der Standardisierung dienen spezifische Dokumentationsbögen, die bei den Dokumentationshilfen in Kapitel 7 enthalten sind. Zusätzlich empfiehlt es sich, eine Fotodokumentation der erhobenen Befunde – auch Normalbefunde – durchzuführen. Für die Fotodokumentation sollte die schriftliche Erlaubnis der Personensorgeberechtigten eingeholt werden. Hilfreich sind die Angabe eines Maßstabes, eine Ganzkörperabbildung sowie Detailaufnahmen. Weitere Empfehlungen zur Dokumentation siehe auch Ziffer 4.2.10.

3.2.5. Interaktion bei sexueller Gewalt

Interaktion im familiären Bereich
und sozialen Nahbereich

Nach der PKS des Bundeskriminalamtes 2010 waren bei circa 40 % der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Opfer mit den Tätern verwandt oder bekannt. Bei der Untersuchung ist daher zu beachten, dass unter Umständen die Bezugspersonen aktive Täter bzw. Tatbeteiligte sein können. Kinder bzw. Jugendliche und Gewalttäter begegnen sich nur selten zufällig. Meist werden erwachsene Personen aus dem Umfeld der Opfer gewalttätig (siehe auch Ziffer 1.2.).

Interaktion Jugendlicher

Für viele Mädchen und Jungen gehört sexualisierte Gewalt zum Alltag. Statistisch gesehen finden sich in allen Lebenszusammenhängen (z. B. Schulklasse, Jugendgruppe, Sportverein, in Nachbarschaft oder Verwandtschaft) Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt erleben oder erlebt haben. Das Ausmaß reicht von kleinen Grenzüberschreitungen bis hin zu massiver Gewaltausübung. In der Schule probieren Mädchen ihre Attraktivität aus, und Jungen üben Dominanz und sexuelle Verfügung über Mädchen ein. Dies geschieht verbal durch Beschimpfungen der Mädchen. Die Jungen werten dabei die Mädchen sexuell ab. Es geschieht tätlich durch Bedrängen, Anfassen, Anstarren, sexistische Zeichnungen und Sprüche an Tafeln, Schulbänken und an Toilettentüren und -wänden.

Uneindeutige
sexuelle Kommunikation

Sexuelle Kommunikation zwischen Mädchen und Jungen erfolgt sowohl verbal als auch nonverbal. Als Kommunikationsplattform werden vermehrt auch Soziale Netzwerke oder Chatrooms im World Wide Web genutzt. Häufig führt uneindeutige Kommunikation sexueller Absichten dazu, dass vor allem Jungen vor dem Hintergrund ihrer männlichen Sozialisation sexuell aggressives Verhalten zeigen. Diese Reaktionsweise ist auch für Jungen typisch, die selbst sexuelle Gewalt erfahren haben.

! Hinweis:

Zur Problematik sexualisierter Gewalt unter Kindern und Jugendlichen siehe insbesondere Ziffer 1.2. sowie die dort genannten Hinweise auf weiterführende Informationen.

3.2.6. Fallmanagement bei sexueller Gewalt

Was tun?

Im Zentrum der ärztlichen Beratung steht die ressourcenorientierte Unterstützung von Kindern und Jugendlichen beim Umgang mit den Auswirkungen der erlebten Gewalt. Ziel ist die Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Eigenkompetenz, die Stärkung der Persönlichkeit und die Förderung der Autonomie. Bei unmittelbar drohender Gewalt gegen Kinder und Jugendliche steht die Organisation und Herstellung des Schutzes der Betroffenen im Mittelpunkt (zur Beurteilung von Risiko- und Schutzfaktoren siehe auch Ziffer 1.3.).

Ärztinnen und Ärzte müssen bei Verdacht des Vorliegens von sexueller Gewalt den Kindern oder Jugendlichen gegenüber einfühlsam und gleichzeitig gelassen bleiben und ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Vorwürfe, Vermutungen, Vorurteile oder ein Dramatisieren des Geschehenen sind unangebracht. Die spontane Aussage von Kindern und Jugendlichen, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein, rechtfertigt immer eine eingehende Untersuchung zur Aufklärung des Sachverhaltes und ggf. zur Spurensicherung.

Damit Ärztinnen und Ärzte nicht in einen Interessenskonflikt geraten, sollten sie den notwendigen Schutz des Kindes oder Jugendlichen und die Grenzen ihrer ärztlichen Schweigepflicht gerade auch ihren jungen Patienten gegenüber verdeutlichen.

! Hinweis:

Zum konkreten Fallmanagement im Einzelnen siehe auch Kapitel 4, zu den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen interdisziplinärer Zusammenarbeit siehe insbesondere Kapitel 2.

Bewertung und
Hierarchisierung der Befunde

Ärztinnen und Ärzte haben die Aufgabe, die erhobenen Befunde zu bewerten und zu hierarchisieren. Bei Erhebung somatischer Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt ist es von großer Bedeutung, im Verlauf des Patientenkontaktes zusätzliche Informationen zu erhalten, die den Verdacht entkräften oder erhärten können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Erhebung von eventuell vorhandenen familiären Risikofaktoren sowie psychischen und/oder psychosomatischen oder psychosozialen Symptomen. In Absprache mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten können weitere spezialisierte Institutionen hinzugezogen werden.

Bei Verdacht auf sexuelle Gewalt sollte man sich, soweit erforderlich, von in der Kinder- und Jugendgynäkologie erfahrenen Fachärztinnen oder Fachärzten bzw. multidisziplinären Einrichtungen beraten lassen, damit die Abklärung des Verdachts optimal verläuft und die betroffenen Kinder und Jugendlichen ggf. vor weiterem Missbrauch oder einer Retraumatisierung geschützt werden.

Handlungspflicht
Einbindung Jugendamt
Praxisempfehlungen zur Einbindung des Jugendamtes:
Handlungspflicht, wenn dies zur Sicherstellung des Kindeswohls erforderlich ist (siehe hierzu insbesondere Ziffern 2.3.3. sowie 2.3.4.)

In der kinder- und jugendärztlichen Versorgung steht das Wohl der Kinder bzw. Jugendlichen im Vordergrund. Wenn gewichtige Anhaltspunkte für eine sexuelle Gewaltanwendung ihnen gegenüber festgestellt sind, müssen sie unverzüglich geschützt werden.

Gewichtige Anhaltspunkte

Das Jugendamt ist kraft Gesetzes die zentrale Stelle, wenn es um Fragen des Kinderschutzes und insbesondere die Klärung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung sowie die Sicherstellung des Kindeswohls geht. Eine Handlungspflicht zur Einbindung des Jugendamtes besteht, wenn aus ärztlicher Sicht eine solche zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung erforderlich ist. Gewichtige Anhaltspunkte, die für eine Misshandlung sprechen, sind unverzüglich dem Jugendamt mitzuteilen (im Einzelnen siehe Ziffer 2.3.4. und Tabelle 6, vergleiche auch Art. 14 Abs. 6 GDVG). Wenn bezüglich der gewichtigen Anhaltspunkte Unklarheiten bestehen, sollten die Kinder bzw. Jugendlichen zur Klärung unverzüglich Fachärztinnen oder Fachärzten, die auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendgynäkologie erfahrenen sind, bzw. einer spezialisierten Einrichtung vorgestellt werden.

Liegen Befunde vor (siehe Tabelle 7), die auf sexuelle Gewalt hindeuten (aber noch keine gewichtigen Anhaltspunkte hierfür sind), müssen diese weiter abgeklärt werden. Bei Hinzukommen weiterer Erkenntnisse können sich diese Befunde gegebenenfalls zu gewichtigen Anhaltspunkten verdichten (z. B. Nachweis eines Sexualkontaktes sowie Vorliegen konkreter Anhaltspunkte, dass dieser nicht im Einvernehmen mit dem bzw. der Jugendlichen erfolgt ist); in diesem Fall muss das Jugendamt unverzüglich einbezogen werden.

Gewichtige Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt sowie Befunde, die auf eine solche hindeuten:
 

Im Folgenden werden ausführlich entsprechend den Altersstufen von 0 – 18 Jahren alle genitalen Befunde aufgeführt, die einen Hinweis auf eine sexuelle Gewaltanwendung bei Mädchen und Jungen darstellen. Es werden Befunde gezeigt, die als gewichtige Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt gelten, und Befunde, die eine weitere Abklärung erfordern.

Kinder im Alter unter sechs Jahren
 

Bei der Inspektion sind neben dem Gesamtaspekt die Klitoris, Präputium Klitoridis, große und kleine Labien, Vulvaränder, Urethralbereich, Hymen in allen Anteilen, Inguinal- und Genitalbereich sowie Anus zu beurteilen. Bei sexueller Gewalt gibt es selten eindeutige Befunde. Als gewichtige Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt gelten alle Verletzungen im Anogenitalbereich ohne plausible Anamnese. Dazu gehören Hämatome, Quetschungen, Striemen, Einrisse und Bisswunden. Häufig entstehen auch ein weiter Eingang der Vagina bzw. Rötung, Einrisse oder venöse Stauung im Analbereich.

Gewichtige Anhaltspunkte für eine sexuelle Gewaltanwendung sind der Nachweis von Spermien beim Kind oder eine Deflorationsverletzung, das heißt akute Lazerationen, Ekchymosen oder Hämatome oder abgeheilte Verletzungen. Die Hymenalverletzung kann partiell (fehlendes Segment des Hymens) oder bis auf den Grund (Vulvarand) des Hymenalsaumes reichen oder auch einen Vaginaleinriss hervorrufen. Diese Lazerationen finden sich typischerweise zwischen drei bis neun Uhr im posterioren Bereich, am häufigsten zwischen fünf und sieben Uhr, in Steinschnittlage betrachtet. Auch Kerbenbildungen in diesem Bereich, die mehr als 50 % des Hymenalsaumes betreffen, sind mechanisch bedingte Verletzungen und sollten entsprechend beurteilt werden. Akute Risswunden des posterioren Frenulums der Labia minora auch ohne Verletzung des Hymens stellen gewichtige Anhaltspunkte für eine sexuelle Gewaltanwendung dar.

Als konkrete Anhaltspunkte, die eine weitere Abklärung nach sich ziehen müssen, sind Rötungen im Sinne von Entzündungen zu werten, die durch kurz zuvor stattgefundenes Reiben (z. B. mit dem Penis) hervorgerufen worden sein könnten. Weitere Anhaltspunkte sind verdickt erscheinende Hymenalsäume bzw. ein eingerollter Hymenalrand.

Urethraldilatationen finden sich auch bei nicht von sexueller Gewalt betroffenen Kindern. Periurethrale Bänder, Synechien der Labien oder Kerbenbildungen des Hymenalsaumes im vorderen Anteil sind Normalbefunde bzw. unspezifische Befunde.

Ein intakter Hymen schließt sexuelle Gewalt nicht aus, da am Genitale Manipulationen wie Streicheln, Lecken etc. stattgefunden haben können. Auch der Versuch, den Finger durch die Hymenalöffnung in die Scheide einzuführen, muss nicht zwangsläufig zu Verletzungen führen. Kommt es dennoch durch Manipulationen zu oberflächlichen Schleimhautverletzungen, heilen diese in kurzer Zeit ab (zwei bis drei Tage) und entziehen sich meist der Nachweisbarkeit.

Die umfassendste Einteilung der Befunde ist durch das Adams-Schema erfolgt, das Genitalbefunde bei Mädchen schematisiert hat.

Befunde im Afterbereich sind noch schwieriger beurteilbar als vaginale. Auch hier gilt, dass Manipulationen in der Regel keine Verletzungen hinterlassen. Oberflächliche Verletzungen heilen sehr schnell (zwei bis drei Tage) ab.

Penetrationen sind schon im frühen Kindesalter möglich und müssen keine Verletzungen verursachen, insbesondere wenn Gleitmittel verwendet oder ohne körperliche Gewaltanwendung vorgegangen wird. Ein gewichtiger Anhaltspunkt für einen Analmissbrauch sind der Nachweis von Samenflüssigkeit und/oder ein tiefer Schleimhauteinriss, der von der Analhaut in die Schleimhaut hineinführt. Konkrete Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt bei einer positiven Anamnese können Fissuren oder Rhagaden im Bereich der Analfalten sein. Eine anale Dilatation nach Spreizen der Gesäßbacken ist bis zu einem gewissen Grad möglich und normal. Dabei sollte sich lediglich der äußere Analsphinkter weiten, der innere sollte dabei verschlossen bleiben. Eine Dilatation des Afters nach einem Analverkehr bildet sich in kurzer Zeit zurück und entzieht sich damit dem Nachweis bei einer Untersuchung.

Auch bei Jungen sind Hautverletzungen die häufigsten Zeichen sexueller Gewaltanwendung. Verletzungen am Penis mit Einrissen des Frenulums oder Adhäsionen des Präputiums, Kontusionen oder Hämatomen sowie Erosionen werden bei Jungen beschrieben. Im Bereich des Skrotums treten am häufigsten Kontusionen oder Hämatome sowie Ödeme auf. Informationen über Verletzungen bei sexueller Gewalt bei Jungen sind in der Literatur rar. Verletzungen bei sexueller Gewalt gegen Jungen treten besonders häufig im Alter von sechs bis acht Jahren auf. Der Anteil der genitalen Verletzungen liegt dabei zwischen 1 – 7 %, die meisten Verletzungen treten im Analbereich auf (62 – 100 %). Verletzungen im Mundbereich bei oraler sexueller Gewaltanwendung sind selten.

Sexuell übertragbare Krankheiten wie z. B. Gonorrhoe, Lues oder Trichomonaden vor der Geschlechtsreife von Kindern sind mit größter Wahrscheinlichkeit Folge von sexueller Gewalt und gelten daher als gewichtige Anhaltspunkte. Der Nachweis von Chlamydien nach dem dritten Lebensjahr wird als beweisend für eine sexuelle Gewaltanwendung gewertet. Der Nachweis von Humanen Papillom Virus Infektionen (Condylomata accuminata) im Bereich von Vulva oder Anus ist ein konkreter Anhaltspunkt, wenn eine vertikale Übertragung in der Familie z. B. durch gemeinsamen Handtuchgebrauch einer infizierten Mutter ausgeschlossen werden kann.

Kinder im Alter von 6 – 13 Jahren
 

Für diesen Altersbereich gelten die Symptome und Befunde wie für den zuvor beschriebenen Altersbereich in gleicher Weise.

Nach erfolgter Östrogenisierung ist eine Penetration mit Penis oder Gegenständen ohne Deflorationsverletzung möglich. Die Angaben von Mädchen mit vollzogener Penetration und intaktem Hymen widersprechen sich nicht. Nach Eintritt der Pubertät müssen auch die sekundären Geschlechtsmerkmale wie z. B. die Brust sorgfältig untersucht werden, um Verletzungen wie Griffmale, Bissmale etc. festzustellen.

Von besonderer Bedeutung ist hier der kompetente Nachweis von möglichen Infektionen (sexuell übertragbare Erkrankungen wie genitale Infektionen, aber auch Hepatitis B bzw. HIV) oder bei akuten Gewaltsituationen der Nachweis von Spermien. Bei akuten Gewaltsituationen muss mit dem Kind nach Eintritt der Menarche eine postkonzeptionelle Kontrazeption angesprochen werden.

Bei einer Schwangerschaft in der Frühpubertät bzw. bis zum 18. Lebensjahr muss man immer auch an einen Missbrauch denken. Jede Schwangerschaft bis zum 18. Lebensjahr ohne nachvollziehbare Angabe des mutmaßlichen Kindsvaters ist verdächtig auf eine stattgefundene sexuelle Gewaltanwendung.

Bei Jungen entsteht nach der Ejakularche eine besonders schwierige Situation, da von ihnen selbst, aber auch von Tätern unterstellt wird, dass die erlebte Gewalt nachweisbare körperliche Erregung (Erektion, Ejakulation) hervorgerufen hat. Auch Mädchen können durch die Situation mit Lubrifikation der Vagina mit oder ohne Orgasmus zusätzlich belastet werden.

Jugendliche (Alter von 14 – 18 Jahren)
 

Für diesen Altersbereich gelten die Symptome und Befunde wie für die zuvor beschriebenen Altersbereiche in gleicher Weise. Bei nachgewiesenem Sexualkontakt sind grundsätzlich zusätzlich Anhaltspunkte erforderlich, dass dieser ohne Einvernehmen stattgefunden hat.

Erfahrungen zeigen, dass der Sexualkontakt oft auch mit der Einnahme von legalen (Alkohol) oder illegalen (Cannabis) Drogen kombiniert ist. Jugendliche Mädchen werden zum Teil nach übermäßigem Genuss von Alkohol (Binge-Drinking) oder durch Einflößen von sogenannten K.O.-Mitteln Opfer von sexueller Gewalt. Dabei kommt es zu einem medizinisch zu beurteilenden sexuellen Kontakt, bei dem aber der Gewaltaspekt aus forensischem Blickwinkel nicht nachweisbar ist. Für Ärztinnen und Ärzte steht der Aspekt des vermuteten vollzogenen Geschlechtsverkehrs im Vordergrund. Daher ist die Erhebung beweisrelevanter Befunde von großer Bedeutung, z. B. Spermiensicherung, Speichelsicherung oder die Sicherung von Haaren oder Hautpartikeln innerhalb von vier Tagen nach dem Schadensereignis.

Tabelle 6: Gewichtige Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt, die eine Mitteilung an das Jugendamt nach sich ziehen (akzidenteller Mechanismus ausgeschlossen; modifiziert nach Adams 2010, www.kindesmisshandlung.de/doku-und-sonstiges.html).

Gewichtige Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt
Spontane Aussagen der Kinder oder Jugendlichen über erfahrene sexuelle Gewalt.
Nachweis von Spermien bei Kindern. Bei Jugendlichen zusätzlich Anhaltspunkte nötig, dass Sexualkontakt ohne Einvernehmen stattgefunden hat (siehe Tabelle 7).
Nachweis von sexuell übertragbaren Erkrankungen wie Lues, GO, Trichomonaden nach Ausschluss perinataler Übertragung bei Kindern. Infektion mit Chlamydia trachomatis (jenseits drittes Lebensjahr) – wird nach dem Adams-Schema als gewichtiger Anhaltspunkt gesehen. Bei Jugendlichen zusätzlich Anhaltspunkte nötig, dass Sexualkontakt ohne Einvernehmen stattgefunden hat (siehe Tabelle 7).
Positive Serologie auf HIV nach Ausschluss einer Übertragung perinatal, durch Blutprodukte oder kontaminierte Nadeln bei Kindern. Bei Jugendlichen zusätzlich Anhaltspunkte nötig, dass Sexualkontakt ohne Einvernehmen stattgefunden hat (siehe Tabelle 7).
Schwangerschaft bei Kindern (Schwangerschaft bei Jugendlichen siehe Tabelle 7).
Akute Lazerationen des Hymens (partielle oder vollständige Einrisse). Bei Jugendlichen zusätzlich Anhaltspunkte nötig, dass Sexualkontakt ohne Einvernehmen stattgefunden hat (siehe Tabelle 7).
Verletzungen im Vaginal-, Oral- oder Genitalbereich ohne plausible Erklärung, akute Lazerationen, Hämatome.
Akute Lazeration der Fossa navicularis ohne plausible Erklärung (ohne Hymenbeteiligung; DD durchtrennte labiale Adhäsionen, fehlende Fusion der Mittellinie; fehlende Angaben eines akzidentellen Traumas, einvernehmlicher Geschlechtsverkehr bei Adoleszenten).
Tiefe perianale Einrisse bis zum externen Analsphincter oder darüber hinaus (DD fehlende Fusion der Mittellinie) .
Ekchymosen, Hämatome auf dem Hymen (DD bekannte infektiöse Prozesse, LSA, Gerinnungsstörungen).
Geheilte Durchtrennung des Hymens („vollständige Spalte“) („Hymenal transection“, „complete cleft“). Zwischen drei bis neun Uhr bis zur oder nahe der Basis durchgerissener Bezirk des Hymens, Eindruck dort fehlenden Hymens. Bestätigung durch zusätzliche Untersuchungstechniken erforderlich: Knie-Brust-Lage, Wasserspülung, Umfahren mit angefeuchtetem Stieltupfer, Blasenkather-Ballonmethode (nur Adoleszente!). Bei Jugendlichen zusätzlich Anhaltspunkte nötig, dass Sexualkontakt ohne Einvernehmen stattgefunden hat.
Fehlendes Segment des Hymens: Bezirk des posterioren Hymenalsaums mit fehlendem Gewebe bis zur Basis, breiter als vollständige Spalte, Bestätigung durch zusätzliche Untersuchungstechniken erforderlich.
Perianale Narbe (selten, DD andere medizinische Ursachen: M.Crohn, akzidentell, medizinische Eingriffe). Schwierig zu bewertende Befunde ohne zuvor dokumentiertes akutes Trauma an entsprechender Lokalisation.
Narben der Fossa navicularis (DD Linvea vestibularis, labiale Adhäsionen). Schwierig zu bewertende Befunde ohne zuvor dokumentiertes akutes Traumas an entsprechender Lokalisation.

Tabelle 7: Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die zu einer weiteren Abklärung führen (modifiziert nach Adams 2010, www.kindesmisshandlung.de/doku-und-sonstiges.html).

Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt
Anogenitaler Herpes Simplex Typ 1 oder 2 (keine weiteren Hinweise auf Missbrauch), meldepflichtig als missbrauchverdächtig in den Guidelines der American Academy of Pediatrics 2005 .
Anogenitale Condylomata acuminata (keine weiteren Hinweise auf Missbrauch).
Einrollung des kaudalen Hymenalrandes.
Verhaltensänderungen (auffälliges, inadäquates oder sexualisiertes Verhalten) .
Psychosomatische Erkrankungen.
Risikofaktoren in der Anamnese.
Nachweis von Sexualkontakten bei Jugendlichen (z. B. Nachweis von Spermien, sexuell übertragbaren Krankheiten), wenn Anhaltspunkte, dass Sexualkontakte ohne Einvernehmen stattgefunden haben.
Schwangerschaft bei Jugendlichen bei ungeklärter Vaterschaft.
Bilder des Kindes oder Jugendlichen in eindeutiger Pose.
Zeigen oder Anfertigen von Pornografie, Zeigen oder Anfertigen von Bildern mit sexualisiertem Inhalt.
Nachweis von SMS, MMS, E-Mails, Internetkontakten mit eindeutig sexualisierten, pornografischen oder gewalttätigen Inhalten.
Gewalt in den Medien

Sexuelle Gewalterfahrungen durch die Neuen Medien (siehe hierzu auch Ziffer 1.4.) werden in der ärztlichen Praxis bisher nur selten thematisiert. Dabei können gerade solche Erfahrungen bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu gravierenden psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen führen. Insbesondere im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen U 10 (7 – 8 Jahre), U 11 (9 – 10 Jahre), J 1 (12 – 14 Jahre) sowie J 2 (16 – 17 Jahre) sollte stärker darauf geachtet werden. Zusätzliche Fragen an Jugendliche zum Medienkonsum und zu eventuell erlebter sexueller Gewalt durch die Neuen Medien können z. B. sein: „Ich habe letzte Woche von einem Jugendlichen gehört, dass von ihm mit einem Handy heimlich Fotos gemacht wurden, die in einen Pornofilm hineingeschnitten wurden. Ist dir auch schon mal so was passiert?“ oder „Bist du im Internet schon mal sexuell belästigt worden?“

! Hinweis:

Weiterführende Informationen zum Thema Medien, Medienerziehung sowie Gewalt in den Neuen Medien siehe insbesondere Ziffer 1.4.

3.2.7. Fallbeispiele aus der Praxis

Fallbeispiel 1

Die 7-jährige S. wird von einem Kollegen wegen Verdacht auf rezidivierende Vaginalinfektionen überwiesen. S. ist in der Untersuchungssituation primär zugewandt und lässt sich gut untersuchen. Nach einem kurzen Blick der Ärztin auf ihre Vulva verweigert sie jede weitere Untersuchung. Es wird ein neuer Termin ausgemacht und die Untersuchung durch eine Ärztin angeboten. Der zweite Untersuchungstermin läuft identisch zum ersten Termin ab. S. wehrt eine Inspektion der Vulva vehement ab. In Absprache mit den Eltern erfolgt der Entschluss zur Untersuchung in Sedierung. Hierbei findet sich ein eindeutiger Befund. Im Bereich von fünf bis sieben Uhr findet sich kein Hymenalsaum mehr. Da der hochgradige Verdacht der sexuellen Gewalt besteht, wird das Jugendamt unverzüglich einbezogen. Es ist verantwortlich für die Gefährdungseinschätzung und für weitergehende Maßnahmen. Schließlich räumt der 13-jährige Bruder gegenüber dem Jugendamt ein, das Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Mit den Eltern wird vereinbart, dass das Mädchen zur Aufarbeitung und Bewältigung des Missbrauchs therapeutische Angebote der Erziehungsberatungsstelle in Anspruch nimmt.

Hinsichtlich des Bruders wird eine kinder- und jugendpsychiatrische Klärung herbeigeführt. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse wird im Einvernehmen und auf Antrag der Eltern entschieden, den Jungen in einer stationären Einrichtung unterzubringen. Bestandteil des Hilfeplanes ist insbesondere die Beteiligung einer Beratungsstelle für minderjährige Sexualtäter.

Fallbeispiel 2

Die 8-jährige M. wird von einem Kinder- und Jugendarzt an einen Kollegen in dessen kinder- und jugendgynäkologische Sprechstunde überwiesen, da tags zuvor eine akute vaginale Blutung aufgetreten sei. M. berichtet, sie sei beim Inlineskaten gestürzt, dabei habe es ihr die Beine auseinandergespreizt. Die Mutter habe den Unfallmechanismus nicht beobachtet. Bei der anschließenden Inspektion des Genitales findet sich bei erhaltenem Hymenalsaum ein quer verlaufender circa 15 Millimeter langer, blutender Riss in der Fossa navicularis. Ansonsten ist keine Verletzung zu sehen.

Derartige Verletzungen werden als Folge eines Inlineskate-Unfalles, bei dem es zu einem übermäßigen Spreizen der Beine kommt, in der Literatur bislang zweimal beschrieben. Der Unfallmechanismus kann daher die Verletzungen von M. erklären. Da jedoch unabhängige Beobachter des Unfalles fehlen, wird die Mutter darüber informiert, dass eine weitere kontinuierliche Betreuung des Kindes durch den einweisenden Kollegen sinnvoll ist. Der Kinder- und Jugendarzt wird nach Rücksprache mit der Mutter über den Befund informiert, ein Termin zur Kontrolle wird vereinbart. Die Gesundheitshilfe trägt hier ihre originäre Verantwortung für die Gesundheit des Kindes.

Da keine Anhaltspunkte für sexuelle Gewalt vorlagen, war eine Einbindung des Jugendamtes nicht erforderlich.

Fallbeispiel 3

Eine Mutter kommt mit ihrer 5-jährigen Tochter in die Kinder- und Jugendarztpraxis. Anamnestisch wird von der Mutter angegeben, dass sie ihre Tochter wegen starken Brennens beim Wasserlassen in einer Kinderklinik vorgestellt habe. Seit mehreren Wochen würden bei dem Mädchen immer wieder Brennen, vor allem nach dem Urinieren, sowie ein immer wiederkehrender Juckreiz bestehen. Nach der Untersuchung des Genitales sei ihr mitgeteilt worden, dass bei dem Mädchen Veränderungen vorhanden sind, die auf sexuelle Gewalt hindeuten (Hämatome im Bereich der Scheide sowie diffuse Einblutungen). Der Hymenaleingang sei sehr weit und der Versuch einer Penetration könne nicht ausgeschlossen werden. Der Kinder- und Jugendarzt vereinbart mit der Mutter, dass eine weitere Untersuchung zur Abklärung in einer spezialisierten Ambulanz erfolgen soll. Die Mutter willigt ein, dass er das Ergebnis der Untersuchung in der Ambulanz erfragen kann. Bei dieser Untersuchung findet sich das klassische Vollbild eines sogenannten Lichen sclerosus et atrophicans, einer Krankheit, die aufgrund der Genitalveränderungen eine der häufigsten Fehldiagnosen zur sexuellen Gewalt darstellt. Eine Einbindung des Jugendamtes erübrigt sich.

Fallbeispiel 4

Eine 17-jährige Jugendliche kommt zur Verschreibung der Pille in die Praxis. In der Anamnesesituation schildert sie folgendes: „Mein Bruder ist älter als ich und ich fand seine Freunde – vor allem P. – schon immer cool und attraktiv. Auf einer Party durften meine Freundin und ich dabei sein. Ich war damals 15. Ich war jung und unerfahren, einfach nur ein wenig in P. verknallt. Dieser nutzte diese Situation schamlos aus. Wir gingen in sein Zimmer und er zeigte mir seine CDs. Ich fand das alles natürlich cool. Er schenkte mir immer wieder Wein nach. Dann fragte er mich, ob ich schon mal geküsst hätte. Ich sagte nein, und er küsste mich. Das war noch ganz schön. Aber er wollte immer mehr. Ich hab mich abgewendet. Aber er versuchte es immer wieder, drückte mich schließlich auf sein Bett und sagte, dass ich ja nicht schreien sollte. Er zog mich aus, sagte, es würde gar nicht weh tun. Ich hatte keine Chance. Er war viel stärker als ich. Ich ließ es über mich ergehen. Als es vorbei war, ließ er mich einfach zurück. Ich habe bis jetzt mit keinem darüber gesprochen. Das Verhältnis zu meinem Bruder ist seither auch nicht mehr besonders gut.“

Die Jugendliche möchte keine Anzeige bei der Polizei erstatten und will auch nicht, dass das Jugendamt informiert wird. Da die Gefahr eines wiederholten Übergriffs nicht besteht und die Ärztin auch eine Gefährdung des Mädchens in Folge der sexuellen Gewalt ausschließen kann, kann sie in diesem Ausnahmefall von der Beteiligung des Jugendamtes absehen. Die Ärztin informiert die Jugendliche gleichwohl über bestehende Beratungsangebote sowie die unterstützende Funktion des Jugendamtes.

Bei Unsicherheiten hinsichtlich der Einbindung des Jugendamtes besteht grundsätzlich die Möglichkeit, den Fall anonymisiert, ggf. auch im Beisein der Betroffenen, mit diesem zu besprechen.