1. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Isabella Gold

1.1. Erscheinungsformen und Begriffsbestimmungen

Kindesmisshandlung

Kinder haben nach § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Unter den Begriff Kindesmisshandlung fallen „einzelne oder mehrere Handlungen oder Unterlassungen durch Eltern oder andere Bezugspersonen, die zu einer körperlichen oder psychischen Schädigung von Kindern oder Jugendlichen führen, das Potenzial einer Schädigung haben oder die Androhung einer Schädigung enthalten“.1 Verschiedene Formen der Kindesmisshandlung stehen nach dem Strafgesetzbuch (StGB) unter Strafe.

Erscheinungsformen von Gewalt

Es gibt verschiedene Erscheinungsformen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Zu unterscheiden sind dabei insbesondere:

Nicht selten treten mehrere Formen der Gewalt gleichzeitig auf.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche findet häufig im familiären und sozialen Umfeld statt. Täter sind oft nahe Bezugspersonen.2 Der Fokus des Leitfadens richtet sich deshalb auf das Erkennen und Handeln in diesen Fällen. Darüber hinaus ist aber auch eine neue Dimension und Verbreitung von Gewalt in den und über die Neuen Medien festzustellen (siehe Ziffer 1.4.). Ferner ist zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche auch selbst Gewalt gegen andere Kinder und Jugendliche ausüben (siehe Ziffer 1.2.) und sich dabei häufig moderner Kommunikationsmittel bedienen (z. B. Cyber-Mobbing bzw. Cyber-Bullying).

Körperliche Gewalt

Körperliche Kindesmisshandlung ist die „nicht zufällige, absichtliche körperliche Gewaltanwendung der Eltern [oder anderer Erziehungsberechtigter] gegenüber ihren Kindern. Sie umfasst ein breites Spektrum von Handlungen“.3 Zu beobachten sind vor allem Schläge (auch mit Gegenständen), Treten, Würgen, Ersticken, Schütteln, Kneifen, Stichverletzungen, Vergiftungen sowie thermische Schäden (Verbrennen, Verbrühen, Unterkühlen). Eine körperliche Misshandlung liegt auch dann vor, wenn Eltern z. B. aus religiösen Überzeugungen eine überlebensnotwendige Operation ablehnen oder eine Genitalverstümmelung vornehmen lassen.4

Sexuelle Gewalt

Die Formen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sind sehr vielfältig. Aufgrund fließender Übergänge existiert keine abschließende Definition.5 Oft ist eine Entwicklung von weniger intimen bis hin zu immer intimeren Formen des Körperkontaktes festzustellen. Grundlage des Leitfadens ist eine weite Definition. Danach fällt unter sexuelle Gewalt „jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind [bzw. Jugendlichen] entweder gegen den Willen des Kindes [bzw. Jugendlichen] vorgenommen wird oder der das Kind [bzw. der Jugendliche] aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann“.6 Täter nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten von Kindern oder Jugendlichen zu befriedigen. Sexuelle Gewalt ist meist begleitet von einer Verpflichtung zur Geheimhaltung, die bei den Opfern zu Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit führt.7

! Hinweis:

Sexuelle Gewalt im strafrechtlichen Sinn ist eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Sexuelle Handlungen an oder mit Kindern sind (auch bei scheinbarem Einverständnis der betroffenen Kinder) immer strafbar. Sexuelle Handlungen mit Jugendlichen sind strafbar, wenn bestimmte Umstände hinzukommen (z. B. Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Ausnutzen einer Zwangslage oder eines Obhutsverhältnisses, Widerstandsunfähigkeit etc.).8

Vernachlässigung

Vernachlässigung stellt eine Form „passiver“ Gewalt dar und bildet das gesamte Spektrum relevanter Unterlassungen ab. Vernachlässigung ist zu definieren als „andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns bzw. Unterlassen der Beauftragung geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln durch Eltern oder andere Personensorgeberechtigte, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und/oder der psychischen Entwicklung des Kindes [Jugendlichen] führt oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet“.9 Zu unterscheiden ist zwischen passiver (unbewusster) Vernachlässigung (z. B. aufgrund unzureichenden Wissens oder mangelnder Einsicht über Notwendigkeiten und Gefahrensituationen) und aktiver Vernachlässigung (z. B. wissentliche Verweigerung von Nahrung und Schutz).10 Die körperliche Vernachlässigung geht oft mit seelischer Vernachlässigung einher, die sich in zu wenig Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wärme zeigt.

Seelische Gewalt

Weite Verbreitung hat die Definition der seelischen Gewalt als „wiederholtes Verhaltensmuster, welches den Kindern [bzw. Jugendlichen] vermittelt, dass sie wertlos, ungeliebt und unerwünscht sowie nur für die Bedürfnisbefriedigung anderer von Nutzen sind“.11 Aufgrund oft verzögert eintretender Folgen dieser Form von Gewalt fällt insbesondere eine Abgrenzung gegenüber bloß unangemessenen oder ungünstigen Formen elterlichen Verhaltens und auch von Formen seelischer Vernachlässigung in der Regel nicht leicht.

! Hinweis:

Kind ist, wer noch nicht 14 Jahre alt, Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre ist.

1 Siehe Glossar des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs unter http://beauftragter-missbrauch.de/course/view.php?id=18. Diese Definition ist Grundlage für den Leitfaden, stimmt allerdings nicht mit der strafrechtlichen Definition überein.
2 Zur sexuellen Gewalt siehe auch Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“, (BT-Drs. 17/8117), S. 3, 8.
3 Deegener/Körner, Risikoerfassung bei Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, S. 325; vgl. ferner Kindler in DJI Handbuch „Kindeswohlgefährdung“, 5 – 1.
4 BLJA, Schützen – Helfen – Begleiten, S. 18 f.
5 Es gibt enge und weite Definitionen sexueller Gewalt. „Enge“ Definitionen umfassen vor allem Handlungen mit einem eindeutig als „sexuell“ identifizierten Körperkontakt zwischen Täter bzw. Täterin und Betroffenen. Unter „weite“ Definitionen fallen dagegen sämtliche als schädlich angesehene sexuelle Handlungen, also auch solche ohne oder mit indirektem Körperkontakt (z. B. Exhibitionismus, Zeigen von pornografischen Abbildungen); siehe Abschlussbericht des Runden Tisches aaO, BT-Drs. 17/8117, S. 7.
6 Unterstaller in DJI Handbuch „Kindeswohlgefährdung“ S. 6 – 3; vgl. auch Deegener/Körner, aaO, S. 328. Bei Kindern ist generell davon auszugehen, dass sie aufgrund ihrer kognitiven, emotionalen und psychosexuellen Entwicklung zu einem wissentlichen Einverständnis zu sexuellen Kontakten noch nicht fähig sind, siehe auch BLJA, Schützen – Helfen – Begleiten, S. 21 sowie Abschlussbericht des Runden Tisches, aaO, BT-Drs. 17/8117, S. 7.
7 Unterstaller in DJI Handbuch „Kindeswohlgefährdung“ S. 6 – 3; vgl. auch Deegener/Körner, aaO, S. 328; BLJA, Schützen – Helfen – Begleiten, S. 21 ff.
8 Abschlussbericht des Runden Tisches, aaO, BT-Drs. 17/8117, S. 7.
9 Kindler in Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung, S. 96 sowie in DJI Handbuch „Kindeswohlgefährdung“, 3 – 1; ferner Deegener/Körner, aaO, S. 81. und 328 ff.
10 Deegener/Körner aaO S. 81 f.; siehe auch BLJA, Schützen – Helfen – Begleiten, S. 16 ff.
11 Deegener/Körner aaO, S. 109 ff. sowie Kindler in DJI Handbuch „Kindeswohlgefährdung“, 4 – 1.