2. Erkennen und Handeln
    – Kinderschutz braucht starke Netze

2.4. Kinder- und Jugendhilfe

2.4.1. Aufgaben und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe

Jugendämter haben Gesamtverantwortung

Die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungs- und Steuerungsverantwortung in der Kinder- und Jugendhilfe liegt bei den Jugendämtern. Zu ihren Aufgaben gehören insbesondere die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Infrastruktur, die Gewährung von Leistungen für Familien und junge Menschen sowie die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes und des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung (§§ 1 ff., 8a, 36, 36a, 80 SGB VIII). Maßgeblich unterstützt werden die Jugendämter bei der Aufgabenerfüllung und Leistungserbringung durch die Dienste und Einrichtungen der freien Jugendhilfe.

! Hinweis:

Die Adressen aller 96 Jugendämter in Bayern sind zu finden unter www.stmas.bayern.de/familie/beratung/jugendamt sowie unter www.blja.bayern.de/adressen/jugendaemter.

Aufgaben und Leistungen
der Kinder- und Jugendhilfe

Die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind vor allem beratende, unterstützende und fördernde Angebote für junge Menschen und ihre Familien. Die Entscheidung, ob Angebote und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe angenommen werden, ist grundsätzlich freiwillig. Die Träger der Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere die Jugendämter haben aber auch die Aufgabe der Gewährleistung eines starken Staates für Kinder in Not (Art. 6 Abs. 2 GG sowie Art. 125, 126 BV: staatliches Wächteramt, siehe insbesondere Ziffer 2.4.3.). Sind Eltern zur Mitwirkung bei der Einschätzung des Gefährdungsrisikos bzw. Abwendung einer Gefährdung nicht bereit oder in der Lage, sind erforderliche Maßnahmen auch gegen den Willen der Eltern zu veranlassen (zu den Interventionen im Einzelnen siehe Ziffer 2.4.3.). Bei allen Entscheidungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe stehen nach dem SGB VIII das Kind bzw. der Jugendliche und deren Wohl im Vordergrund (zu den elementaren Handlungsgrundsätzen siehe Ziffer 2.1.). Im Einzelfall sind schwierige und sensible Abwägungsprozesse im Spannungsfeld von Prävention und Intervention nötig.

! Hinweis:

Hilfeformen der Kinder- und Jugendhilfe reichen von Beratung und ambulanten Hilfen für Familien (z. B. Erziehungsberatung, Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft) und Angeboten in Kindertageseinrichtungen über familienergänzende Angebote (z. B. Tagesgruppen) bis hin zu familienersetzenden Angeboten und Maßnahmen (z. B. Vollzeitpflege, Heimerziehung, sonstige betreute Wohnformen). Bedarf, Umfang und Intensität von Hilfen zur Erziehung werden im Hilfeplanverfahren (§§ 36, 36a SGB VIII) von den Fachkräften des Jugendamtes festgestellt und bewilligt. Eine wichtige Arbeitshilfe zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs und der Einschätzung einer Gefährdung sind dabei die Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen des Bayerischen Landesjugendamtes.

Weiterführende Informationen zum gesamten Angebots- und Leistungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe in Bayern sind auch unter www.stmas.bayern.de/jugend, www.herzwerker.de, www.kinderschutz.bayern.de sowie www.blja.bayern.de abrufbar.

Ansprechpartner im Jugendamt:
 

Innerhalb des Jugendamtes sind zur Einschätzung sowie zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung in aller Regel die Fachkräfte der sogenannten Bezirkssozialarbeit (bzw. des Allgemeinen Sozialdienstes – ASD)19 die geeigneten Ansprechpartner. Im Zweifelsfall sollte Kontakt zur jeweiligen Jugendamtsleitung aufgenommen werden. Dort ist schnell Auskunft zu erhalten, wer im Stadtteil oder der Region im konkreten Einzelfall zuständig ist. Dringend zu empfehlen ist der Austausch von Namenslisten mit Telefonnummern zuständiger Ansprechpartner und Zuständigkeitsverzeichnissen im Rahmen strukturell angelegter Zusammenarbeit (siehe hierzu Ziffer 2.2.2.). Zur Sicherstellung des Kindeswohls in akuten Krisenfällen ist eine Erreichbarkeit vor allem auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten zu gewährleisten.

Feste interdisziplinäre Netzwerkstrukturen sichern in Bayern vor allem die flächendeckend etablierten regionalen Koordinierenden Kinderschutzstellen (KoKi-Netzwerk frühe Kindheit, siehe Ziffer 2.4.2.), die Ansprechpartner insbesondere bei Fragen zur Verhinderung von Kindeswohlgefährdung und der Stärkung von Elternkompetenzen in Belastungssituationen sind.

Erreichbarkeit außerhalb üblicher Dienstzeiten:
 

Gerade in Krisenfällen ist hoher Handlungsdruck gegeben und daher ist es besonders wichtig, dass im Vorfeld Vereinbarungen auch zur Erreichbarkeit außerhalb der üblichen Dienstzeiten getroffen werden und Ärztinnen und Ärzte über Kontaktdaten zuständiger Ansprechpartner im Jugendamt verfügen (siehe Ziffer 2.2.2.). Vor allem bei größeren Jugendämtern empfiehlt es sich, neben der Leitung auch die für die jeweilige Region zuständige Fachkraft zu kennen. In „ruhigeren“ Zeiten geknüpft und gepflegt, erweisen sich die vorhandenen Kontakte und insbesondere das persönliche Kennenlernen als kurzhändig und belastbar in Krisen und Konflikten.

Um die Erreichbarkeit in Krisenfällen auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten sicherzustellen, sollen die Jugendämter darüber hinaus zumindest bei den Einsatzzentralen der Polizeipräsidien den bzw. die verantwortlichen Vertreter des Jugendamtes benennen.

! Hinweis:

Soweit die Jugendämter die Erreichbarkeiten der Ansprechpartner mitgeteilt haben, können diese im konkreten Bedarfsfall unter der Notrufnummer 110 bei den Einsatzzentralen der Polizeipräsidien rund um die Uhr abgefragt werden. Empfohlenes Verfahren: Anruf der Einsatzzentrale beim genannten Ansprechpartner mit der Bitte um Kontaktaufnahme mit der anfragenden Ärztin bzw. dem anfragenden Arzt. Die hier eingesetzten Polizeibeamten haben auch hier das Legalitätsprinzip zu beachten.

2.4.2. Präventiver Kinderschutz in Bayern

Frühe Hilfen in Bayern

Die Stärkung elterlicher Kompetenzen ist der beste und nachhaltigste Ansatz zur Sicherstellung eines effektiven Kinderschutzes. Zur frühzeitigen Stärkung elterlicher Kompetenzen gibt es in Bayern eine Vielfalt an unterschiedlichen und passgenauen Angeboten. Eine Übersicht zu den Frühen Hilfen in Bayern ist zu finden unter www.fruehehilfen.bayern.de.

Die Angebotspalette der Eltern- und Familienbildung umfasst Informationen und Ratschläge, Elternkurse und Elternbriefe, aber auch die Beratung in Fragen der Erziehung und Angebote der Familienerholung.

Damit auch belastende Situationen Eltern nicht überfordern und um sicherzustellen, dass möglichst „kein Kind den Anschluss verpasst“, gibt es darüber hinaus zahlreiche differenzierte Angebote. Eine systematische Vernetzung der Angebote Früher Hilfen zur Unterstützung bei Belastungssituationen leisten die KoKi-Netzwerke. Neben qualifizierten Beratungsmöglichkeiten in den Jugendämtern (Anlaufstelle: KoKi-Netzwerk frühe Kindheit) steht Familien in Bayern insbesondere ein flächendeckendes Netz von rund 180 Erziehungsberatungsstellen zur Verfügung. Diese Einrichtungen, die in der Trägerschaft der öffentlichen und freien Jugendhilfe sind, leisten einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung elterlicher Erziehungskompetenzen. Multidisziplinäre Fachteams unterstützen Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte in Belastungssituationen bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrundeliegenden Faktoren. Zu den besonderen Unterstützungsmöglichkeiten bei sog. Schreibabys siehe auch Ziffer 1.3.

KoKi – Netzwerk frühe Kindheit

Wichtige Anlaufstellen im Bereich des Präventiven Kinderschutzes sind die Koordinierenden Kinderschutzstellen (KoKi). Um Belastungssituationen in Familien frühzeitig zu erkennen und Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung zu unterstützen, wurden in Bayern seit 2009 flächendeckend Koordinierende Kinderschutzstellen (KoKi – Netzwerk frühe Kindheit) im Verantwortungsbereich der Jugendämter geschaffen. Zielgruppen sind insbesondere Familien mit Säuglingen und Kleinkindern, die gezielter und qualifizierter Unterstützung bedürfen.

! Hinweis:

Eine Übersicht zu den KoKis in Bayern ist zu finden unter www.koki.bayern.de.

Unterstützung für Familien in belasteten
Situationen durch systematische Vernetzung Früher Hilfen

Wesentliche Aufgabe der KoKi-Fachkräfte ist die systematische Vernetzung der regionalen Angebote Früher Hilfen und die strukturelle Verankerung interdisziplinärer Zusammenarbeit zur Stärkung elterlicher Erziehungskompetenzen auch und insbesondere in familiären Belastungssituationen. Sie organisieren, koordinieren und pflegen das „Netzwerk frühe Kindheit“ vor Ort und helfen Eltern bei der Suche nach der richtigen Hilfe. Die KoKi-Fachkräfte sind dabei vertrauensvolle Ansprechpartner sowohl für die Familien als auch für die KoKi-Netzwerkpartner. Etwaige Hemmschwellen von Familien und Netzwerkpartnern gegenüber der Kinder- und Jugendhilfe sollen dadurch weiter abgebaut und unterstützende Angebote für Eltern gebündelt und bekannt gemacht werden (Navigationsfunktion). Sie informieren über Unterstützungsangebote von Einrichtungen und Diensten sowohl der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Angebote von Erziehungsberatungsstellen) als auch anderer Hilfesysteme (z. B. über Leistungsangebote von Ärztinnen und Ärzten, Gesundheitsämtern, Schuldnerberatungsstellen, Frühförderstellen, Hebammen, Schwangerschaftsberatungsstellen) und vermitteln auf Wunsch dorthin.

Grafische Darstellung der Vernetzung des Netzwerk frühe Kindheit mit seinen Partnern wie z.B. Jugendhilfe, Polizei oder Beratungsstellen.

Abbildung 3: KoKi – Netzwerk frühe Kindheit

Verhinderung von Kindeswohlgefährdungen sowie
Schaffung von mehr Chancengerechtigkeit

Ziel ist, Überforderungssituationen von Eltern und andere Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung sowie für das Kindeswohl frühzeitig zu erkennen, damit ihnen durch zuverlässige und institutionsübergreifende Unterstützungs- und Hilfeangebote rechtzeitig begegnet werden kann (selektive/sekundäre Prävention) und Schutzfaktoren gestärkt werden (siehe hierzu auch Ziffer 1.3.). Die Leistungen des KoKi-Netzwerkes sind ein unterstützendes Angebot für Eltern. Eine Inanspruchnahme erfolgt freiwillig. Durch Unterstützung aus dem interdisziplinären Netzwerk, in das möglichst alle Berufsgruppen der Region, die sich wesentlich mit Säuglingen und Kleinkindern befassen, eingebunden sind, sollen Eltern auch in Belastungssituationen befähigt werden, für eine gute und gesunde Entwicklung ihrer Kinder zu sorgen. Neben der Vermeidung von Kindeswohlgefährdungen geht es darum, durch die Förderung elterlicher Beziehungs-, Bindungs- und Erziehungskompetenzen vor allem auch positive Entwicklungschancen für Kinder zu schaffen (grundlegender Beitrag zur Schaffung von Chancen- und Bildungsgerechtigkeit für Kinder, siehe auch Ziffer 1.2.).

Gesundheitsberufe wichtiger
Partner im KoKi-Netzwerk

Da Ärztinnen und Ärzte und andere Vertreter des Gesundheitsbereichs (z.B. Hebammen und Entbindungspfleger, Schwangerschaftsberatungsstellen etc.) in der frühen Kindheit oft die ersten Ansprechpartner für Eltern sind, haben sie eine besondere Schlüsselstellung und sind deshalb äußerst wichtige Kooperationspartner im KoKi-Netzwerk. Werden in diesem Zusammenhang weitere Unterstützungsbedarfe anderer Professionen und Hilfesysteme, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe bekannt, geht es darum, bei den Eltern möglichst frühzeitig um die Inanspruchnahme entsprechender Angebote und Hilfen zu werben.

Eine besondere Rolle kommt den Hebammen zu, wenn es darum geht, Familien möglichst frühzeitig zu erreichen und ihnen Hilfemöglichkeiten aufzuzeigen. Deshalb hat das StMAS zusammen mit dem Bayerischen Hebammen Landesverband e. V. und dem Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb) ein umfassendes Kursprogramm für eine familienpädagogische und präventive Weiterbildung für alle Hebammen entwickelt (MAJA – Hebammen helfen Eltern), die sich in ihren familienpädagogischen und kommunikativen Fähigkeiten weiterbilden wollen.

BKiSchG: § 3 KKG

Entsprechende interdisziplinäre Netzwerke werden auch im Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG), das zum 01.01.2012 in Kraft getreten ist, als zentrales Element zur Verbesserung des Präventiven Kinderschutzes gesehen. So werden in § 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz - KKG entsprechende verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz empfohlen und entsprechende Rahmenbedingungen hierfür festgelegt.

! Hinweis:

Bayern ist mit dem KoKi-Konzept und den KoKi-Netzwerken frühe Kindheit bundesweiter Vorreiter im Bereich systematischer Vernetzung Früher Hilfen für Familien in belasteten Lebenssituationen. Erprobt wurde das Konzept erfolgreich im länderübergreifenden Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“ (2006 – 2008, Projektleitung: Universitätsklinikum Ulm). Seit 2009 werden interdisziplinäre KoKi-Netzwerke aufgebaut, gepflegt und weiterentwickelt. Eine flächendeckende Etablierung besteht bereits. Das StMAS unterstützt die Jugendämter dabei sowohl fachlich als auch finanziell mit einem Regelförderprogramm.

Informationen zum KoKi-Konzept und Förderprogramm des StMAS sowie zum länderübergreifenden Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“ sind insbesondere abrufbar unter www.koki.bayern.de.

Mit der in § 3 Abs. 4 KKG enthaltenen Bundesinitiative des BMFSFJ soll in Bayern insbesondere der verstärkte Einsatz von Familienhebammen und vergleichbaren Gesundheitsberufen in den KoKi-Netzwerken frühe Kindheit unterstützt werden. Weiterführende Informationen zur Umsetzung der Bundesinitiative finden Sie hier.

Weiterführende Informationen zu Angeboten Früher Hilfen in Bayern sind insbesondere abrufbar unter:

2.4.3. Interventionen bei Kindeswohlgefährdung

Schutzauftrag des
Jugendamtes nach § 8a SGB VIII

Neben der Unterstützung der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder hat das Jugendamt gemäß § 8a SGB VIII insbesondere auch die Aufgabe, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (staatliches Wächteramt). Die Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind grundsätzlich freiwillig. Zur Abklärung bzw. zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen besteht allerdings eine Pflicht der Eltern zur Mitwirkung und zur Inanspruchnahme von für die zur Sicherstellung des Kindeswohls erforderlichen Leistungen. Vorrangiges Ziel ist auch hier, die Eltern bzw. Personensorgeberechtigten, so weit möglich, zur aktiven Mitarbeit an der sofortigen Abwendung einer Kindeswohlgefährdung zu veranlassen. Im Mittelpunkt aller Entscheidungen steht das Wohl des Kindes bzw. Jugendlichen (§ 1 SGB VIII).

Einschätzung des
Gefährdungsrisikos nach § 8a SGB VIII

Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es gemäß § 8a Abs. 1 SGB VIII das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. Soweit der wirksame Schutz des Kindes bzw. des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die Eltern sowie das Kind bzw. den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen und, sofern dies nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist, sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind bzw. Jugendlichen und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen.

Können oder wollen Eltern nicht ausreichend zur Einschätzung des Gefährdungsrisikos bzw. zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung mitwirken, haben die Jugendämter bei den Familiengerichten die im Interesse des Kindeswohls notwendigen Mitwirkungsauflagen bzw. Einschränkungen des Elternrechts zu beantragen und zu erwirken (§ 1666 BGB, § 8a Abs. 3 SGB VIII, siehe auch Ziffer 2.5.). Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen (§§ 8a Abs. 3 Satz 2, 42 SGB VIII, siehe auch unten).20

Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden Dritter, insbesondere der Gesundheitsberufe erforderlich ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme hinzuwirken; ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Eltern bzw. Personensorgeberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein (§ 8a Abs. 4 SGB VIII).

Kein Signal darf
verloren gehen

Zur Sicherstellung eines effektiven Kinderschutzes sind die Jugendämter ganz erheblich darauf angewiesen, dass sie bei entsprechenden Gefährdungslagen schnell eingebunden werden. Besonders relevant sind dabei ärztliche Erkenntnisse über Anhaltspunkte von Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen (siehe Ziffern 2.3.1. und 2.3.4.). Aufgabe der Jugendämter (Ansprechpartner siehe Ziffer 2.4.1.) ist es, diesen Anhaltspunkten nachzugehen und insbesondere zu prüfen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.

Schutzkonzept
und Hilfeplan

Zur Sicherstellung des Kinderschutzes hat das Jugendamt, beginnend bei der Mitteilung oder dem Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte bis zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung zusammen mit den am Klärungs- und Hilfeprozess Beteiligten ein Schutzkonzept zu erstellen. Dieses dient der Prüfung und Überprüfung der Risikoeinschätzung, des sich hieraus resultierenden Schutzbedarfs, der weiteren notwendigen Handlungsschritte, der Organisation von Hilfen und der verantwortlichen Einhaltung von Absprachen mit den am Klärungs- und Hilfeprozess beteiligten Personen.21 Für die Ausgestaltung der Hilfe im Einzelfall ist die Aufstellung eines qualifizierten Hilfeplans (§ 36 SGB VIII) erforderlich. Die Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen des Bayerischen Landesjugendamtes sind hierfür eine wichtige Grundlage.

Inobhutnahme
nach § 42 SGB VIII

Das Jugendamt ist unter den Voraussetzungen des § 42 SGB VIII berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Kind oder der Jugendliche darum bittet oder eine dringende Gefahr für das Kindeswohl die Inobhutnahme erfordert und die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.

Während der Inobhutnahme hat das Jugendamt weitreichende Befugnisse zum unmittelbaren Handeln, insbesondere ist es berechtigt, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind (z. B. Veranlassung notwendiger medizinischer Untersuchungen). Mit der Inobhutnahme ist auch die Befugnis zur vorläufigen Unterbringung bei einer geeigneten Person, Einrichtung oder einer sonstigen (geeigneten) Wohnform verbunden (z. B. Kinderschutzzentrum, Kinder- und Jugendnotdienste etc.).

Wegen der Funktion der Inobhutnahme als Ausübung des staatlichen Wächteramtes ist die Erfüllung der Aufgabe grundsätzlich den Jugendämtern vorbehalten. Die einzelnen Befugnisse sind an das Jugendamt adressiert, anerkannte Träger der freien Jugendhilfe können an der Durchführung der Aufgaben beteiligt werden. Ihnen kann vom Jugendamt auch die ganze Aufgabe übertragen werden, die Verantwortung des Jugendamtes bleibt aber bestehen (§§ 75, 76 SGB VIII).

19 Die Aufgaben der Bezirkssozialarbeit sind bei den Jugendämtern teilweise auch im Allgemeinen Sozialdienst (ASD) verortet.
20 Zur Umsetzung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII siehe auch Empfehlungen des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses unter www.blja.bayern.de/textoffice/empfehlungen. Wichtige Informationen, wie sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe bei Anhaltspunkten zu Kindeswohlgefährdungen richtig verhalten, enthält die Broschüre „Schützen – Helfen – Begleiten“ des Bayerischen Landesjugendamtes.
21 Siehe auch BLJA, Schützen – Helfen – Begleiten, S. 41 ff., 51 ff.