2. Erkennen und Handeln
    – Kinderschutz braucht starke Netze

2.2. Interdisziplinäre Zusammenarbeit – Rahmenbedingungen

Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit

Die Unterstützung von Familien sowie die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes gehört zum originären Aufgabenbereich der Jugendämter (örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe), diese werden dabei maßgeblich durch die Angebote und Leistungen der Träger der freien Jugendhilfe unterstützt (zu den Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe siehe Ziffer 2.4.). Zur Sicherstellung der bestmöglichen Unterstützung junger Menschen und ihrer Familien sowie eines effektiven Kinderschutzes sind die Jugendämter sowie die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe auf eine gelingende und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den anderen beteiligten Hilfesystemen und Fachdisziplinen, vor allem dem Gesundheitsbereich, der Schule, der Polizei und der Justiz angewiesen.

Schlüsselfunktion der Gesundheitsberufe

Berufe aus dem Gesundheitsbereich (Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Entbindungspfleger etc.) sowie die Beratungsstellen für Schwangerschaftsfragen haben üblicherweise vor allen anderen Institutionen und Professionen Kontakt zu Eltern und ihren Kindern. Diesen Zugang gilt es frühzeitig zur bestmöglichen Förderung einer guten und gesunden Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sowie zur rechtzeitigen Beseitigung etwaiger Gefährdungslagen zu nutzen (zur Aufgabenstellung des Gesundheitsbereichs siehe insbesondere Ziffer 2.3.).

Im Folgenden werden die Rahmenbedingungen für interdisziplinäre Zusammenarbeit im Spannungsfeld von Prävention und Intervention aufgezeigt und Empfehlungen für ein gelingendes Miteinander der unterschiedlichen Fachdisziplinen zum Wohle von Kindern und Jugendlichen gegeben. Empfehlungen, wie interdisziplinäre Zusammenarbeit in der jeweiligen Arztpraxis bzw. Klinik vor Ort konkret verankert werden kann, enthält insbesondere Kapitel 4.

! Hinweis:

Die Ausführungen im Leitfaden befassen sich im Wesentlichen mit der Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten mit den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe (insbesondere dem Jugendamt) sowie mit Polizei und Justiz. Einen Gesamtüberblick zu den Aufgaben- und Kooperationsfeldern von Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitsbereich, Schule, Polizei und Justiz gibt insbesondere die Handreichung des StMAS „Kinderschutz braucht starke Netze“, abrufbar unter www.kinderschutz.bayern.de. Auf dieser Seite ist auch ein Gesamtüberblick mit ausführlichen Informationen zum Kinderschutz in Bayern zu finden.

Handreichungen, Bekanntmachungen
und Empfehlungen

Zur Intensivierung der interdisziplinären Zusammenarbeit und Etablierung nachhaltiger Vernetzungsstrukturen vor Ort, insbesondere von Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitsbereich, Schule, Polizei und Justiz, gibt es in Bayern zahlreiche Handreichungen, Bekanntmachungen und Empfehlungen, die fortlaufend den jeweiligen aktuellen Handlungserfordernissen angepasst werden.

Weiterführende Informationen und Empfehlungen zur interdisziplinären Zusammenarbeit und Vernetzung geben unter anderem:

  • Handreichung des StMAS „Kinderschutz braucht starke Netze“ (bestellbar sowie abrufbar unter www.kinderschutz.bayern.de).
  • Modellprojekt Guter Start ins Kinderleben, Werkbuch Vernetzung, Ziegenhain/Schöllhorn/Künster/Hofer/König/Fegert; Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm in Zusammenarbeit mit den beteiligten Ländern BW, BY, RP und TH sowie BMFSFJ; Herausgeber: Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH), 2010 (bestellbar sowie abrufbar unter www.bzga.de/infomaterialien/fruehehilfen/werkbuch-vernetzung).
  • Best practice-Beispiel für gelingende Zusammenarbeit zwischen Polizei, Jugendhilfe und Schule samt Empfehlungen: siehe inzwischen verstetigtes Modellprojekt Kooperation Polizei-Jugendhilfe-Sozialarbeit-Schule (PJS) in Nürnberg. Weitere Informationen hierzu sind unter www.nuernberg.de/internet/sicherheitspakt/vernetzung_polizei_schule.html abrufbar.

2.2.1. Zusammenarbeit im Spannungsverhältnis von Prävention und Intervention

Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich des Kinderschutzes findet in einem sensiblen Spannungsverhältnis von Prävention und Intervention1 statt. Die unter Ziffer 2.1. beschriebenen elementaren Handlungsgrundsätze sind oberster Maßstab und Leitlinie jeglichen Handelns.

Herausforderungen

Verantwortung darf nicht lediglich abgegeben, sondern muss gemeinsam getragen und auch gemeinsam „ausgehalten“ werden. Das größte Potenzial, Kindeswohlgefährdungen zu verhindern, liegt im Bereich des Präventiven Kinderschutzes (siehe hierzu Ziffer 2.4.2.). Besonders wichtig ist hier die Phase der frühen Kindheit. Familiäre Belastungssituationen und Unterstützungsbedarfe müssen frühzeitig erkannt und elterliche Kompetenzen gestärkt werden. Dies erfordert Mut, hinzusehen und Gespräche mit den Personensorgeberechtigten auch über sensible und schwierige Themen zu führen. Hemmschwellen zu Angeboten anderer Hilfesysteme, insbesondere zur Kinder- und Jugendhilfe, müssen weiter abgebaut und die Motivation zur Inanspruchnahme von Hilfeangeboten gesteigert werden. Insgesamt ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deutlich zu machen, dass es in der heutigen Zeit aufgrund steigender Anforderungen an die Erziehungskompetenz von Eltern, familiärer und sozialer Konfliktlagen, psychischer Probleme, des Drucks aus dem Arbeitsalltag etc. bei gleichzeitigem Rückgang familiärer Netze (z. B. Großfamilie) kein Versagen, sondern etwas Selbstverständliches darstellt, wenn Hilfe von professionellen Fachkräften (wie z. B. in Jugendämtern oder Erziehungsberatungsstellen) angenommen wird. Auch die Medien haben hierbei eine hohe Verantwortung, den Wert sozialer Arbeit im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.

! Hinweis:

Um zur Wertschätzung für soziale Berufe beizutragen und unter anderem über die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe zu informieren, hat das StMAS die „Herzwerkerkampagne“ ins Leben gerufen. Näheres hierzu siehe www.herzwerker.de.

Werben um Inanspruchnahme
von Hilfeleistungen

Interdisziplinäre Zusammenarbeit bedeutet vor allem, bei den Eltern bedarfsgerecht um die Inanspruchnahme von Hilfen anderer Professionen und Institutionen zu werben, etwaige Hemmschwellen abzubauen und rechtzeitig Brücken dorthin zu bauen. Die „Entstigmatisierung“ der Inanspruchnahme von Hilfen (insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe) und die damit verbundene Vermittlung von Wertschätzung der Leistung anderer Hilfesysteme und Professionen ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und Kernaufgabe interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Konsequentes Handeln
bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdungen

Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen kann nicht immer abgewartet werden, bis Eltern notwendige Hilfen annehmen. Dringlichkeit (z. B. eskalierende Krisensituationen) oder mangelnde Kooperationsbereitschaft von Eltern trotz festgestellter Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung können es erforderlich machen, auch gegen den Willen der Personensorgeberechtigten das Jugendamt oder andere Stellen (z. B. Polizei) über die Wahrnehmungen zu informieren und einzubinden. In Situationen, in denen eine akute, schwerwiegende Kindeswohlgefährdung ein sofortiges Tätigwerden zur Abwendung der Gefährdungslage erfordert, sind abgestimmte Interventionen besonders wichtig (siehe hierzu Ziffern 2.3.4. und 2.4.3.).

2.2.2. Voraussetzungen für gelingende interdisziplinäre Zusammenarbeit

Grundlegende Voraussetzungen

Grundlage für eine gelingende interdisziplinäre Zusammenarbeit ist zunächst die gegenseitige Kenntnis, Akzeptanz und Wertschätzung der jeweiligen Zuständigkeiten und Aufgaben, Strukturen und Arbeitsweisen sowie der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen. Angesichts knapper Ressourcen ist auch das Bewusstsein des Mehrwerts gelingender Zusammenarbeit für die eigene Arbeit sehr wichtig. Hierzu trägt die Kenntnis der relevanten Ansprechpartner vor Ort sowie ein vertrauensvolles Miteinander, das insbesondere auch die Einbeziehung der Eltern umfasst, maßgeblich bei. Die Steuerungsfunktion seitens des Jugendamtes gilt es dabei in jedem Fall zu respektieren.

! Hinweis:

Die Planungs-, Steuerungs- und Gesamtverantwortung für die Kinder- und Jugendhilfe liegt bei den 96 bayerischen Jugendämtern. Näheres zu Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten sowie den relevanten Ansprechpartnern und Erreichbarkeiten siehe Ziffern 2.4.1.2.4.3.

Besonders wichtig sind ferner gemeinsame Vereinbarungen, die vor allem verbindliche Kooperationsstrukturen und Verfahrensabläufe an den Schnittstellen festlegen. Dazu gehören auch die Klärung von Begrifflichkeiten und die Festlegung gemeinsamer Sprachregelungen und Standards (z. B. zur Gefährdungseinschätzung, Kindeswohlgefährdung, Qualitätssicherung). Nur so kann sichergestellt werden, dass die reibungslose Verständigung zwischen den Netzwerkpartnern zum effektiven Kinderschutz nachhaltig strukturell und institutionell etabliert wird und nicht von einzelnen engagierten Personen oder von Zufällen abhängt. Die Unterstützung auf der jeweiligen Leitungsebene ist hierfür eine grundlegende Voraussetzung.

Erfolgsfaktoren
Wichtige Erfolgsfaktoren für gelingende interdisziplinäre Zusammenarbeit:
  • Gemeinsamer Wille und positive Haltung zur Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit muss von allen Kooperationspartnern auf allen Ebenen als wertvoll und unverzichtbar für die optimale Förderung und den Schutz junger Menschen angesehen werden. Dazu gehören auch die gegenseitige Wertschätzung sowie das Bewusstsein des Nutzens und des Mehrwerts gelingender Zusammenarbeit für die eigene Arbeit.
  • Kenntnis und Akzeptanz der jeweiligen Zuständigkeiten und Aufgaben, Arbeitsaufträge und Arbeitsweise, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen sowie gesetzlichen Rahmenbedingungen: Besonders wichtig sind die Klärung von gegenseitigen Erwartungen, Sichtweisen sowie die Wissensvermittlung, was von den anderen Kooperationspartnern an Angeboten und Aktivitäten erwartet werden kann. Wichtig ist dabei auch die Kenntnis über relevante Angebote und Ansprechpartner vor Ort. Zu empfehlen ist hierfür unter anderem die Verteilung bzw. Bereitstellung von Informationsmaterial über relevante und zuständige Ansprechpartner, Angebote und Dienste etc. sowie eine transparente Veröffentlichung regional vorhandener Unterstützungsangebote (z. B. im Internet).
  • Festlegung eines Verantwortlichen für Aufbau und Pflege von Kooperationsbeziehungen sowie Nennung von Ansprechpartnern: Aufbau und Pflege interdisziplinärer Kooperationsstrukturen liegen im Kinderschutz vor allem im Verantwortungsbereich der Jugendämter und gehören im Bereich des Präventiven Kinderschutzes zu den Kernaufgaben der Koordinierenden Kinderschutzstellen (siehe Ziffer 2.4.2.). Diese haben dabei unter anderem die Aufgabe, regionale Kinderschutzkonzeptionen gemeinsam mit den Netzwerkpartnern zu erstellen. Ein wesentlicher Inhalt sind dabei regionale Bestandsverzeichnisse aller relevanten Angebote und Dienste, die laufend zu aktualisieren und transparent zu veröffentlichen sind. Zur strukturellen Verankerung nachhaltiger interdisziplinärer Kooperationsbeziehungen ist von ärztlicher Seite eine aktive Unterstützung dieser Netzwerke wichtig. Um verlässliche Kooperationsbeziehungen nachhaltig sicherzustellen, ist vor allem auch die Benennung von Ansprechpartnern der jeweils beteiligten Systeme und Professionen und das Wissen darüber, wer wann und wo erreichbar ist, äußerst wichtig.
  • Festlegung von Erreichbarkeiten: Die Erreichbarkeit insbesondere in Krisensituationen ist ein äußerst wichtiger Faktor für gelingende Zusammenarbeit (siehe auch Ziffer 2.4.1.). Besonders zu empfehlen ist die gegenseitige Bereitstellung von Zuständigkeitsverzeichnissen und Organigrammen (z. B. Personenlisten mit Telefonnummern zuständiger Ansprechpartner), Vereinbarungen zu Erreichbarkeiten außerhalb der üblichen Dienstzeiten (z. B. Austausch von Handynummern für den Ernstfall) etc. In größeren Städten und Landkreisen sollte neben der Jugendamtsleitung auch die für die entsprechende Sozialregion zuständige Fachkraft der Bezirkssozialarbeit bzw. des Allgemeinen Sozialdienstes bekannt sein. Sinnvoll wäre insgesamt eine zusammenfassende Übersicht aller relevanter Kooperations- und Ansprechpartner für Krisenfälle in der Region (sollte auch in der vom Jugendamt zu erstellenden Kinderschutzkonzeption enthalten sein).
  • Verbindliche Kooperations- und Verfahrensabsprachen zur Schaffung von Handlungssicherheit und Nachhaltigkeit: Dazu gehören z. B. die Klärung von Begrifflichkeiten, die Festlegung gemeinsamer interdisziplinärer Standards und abgestimmter Vorgehensweisen bei Gefährdungseinschätzung, Kindeswohlgefährdung, Qualitätssicherung etc. Klare und verbindliche Kooperations- und Verfahrensabsprachen sowie verabredete kurze Kommunikationswege sind insbesondere in Krisensituationen entscheidend (z. B. konkrete Absprachen, an wen Mitteilungen von möglichen Kindeswohlgefährdungen zu adressieren sind, z. B. Festlegung einer bestimmten Faxadresse etc.). Gelingende Kooperation basiert auf Verbindlichkeit und darf deshalb nicht in das persönliche Ermessen einzelner Mitarbeiter gestellt werden.
  • Sicherung und Weiterentwicklung interdisziplinärer Qualitätsstandards durch regelmäßigen interdisziplinären Austausch und gemeinsame Veranstaltungen: Um die ausgetauschten Informationen sowie die konkreten Absprachen und Vereinbarungen zu verstetigen und laufend aktuellen Anforderungen anzupassen, sollten die wichtigsten Inhalte und Absprachen schriftlich festgehalten und laufend fortgeschrieben werden. Deren Implementierung, Fortschreibung und Weiterentwicklung sollte vor allem auch zum festen Bestandteil interdisziplinärer Informations- und Fortbildungsveranstaltungen gehören (siehe hierzu auch Ziffer 2.2.4.).

2.2.3. Datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen

Datenschutz und Kinderschutz:
kein Widerspruch

Kooperation braucht Kommunikation. Bei der konkreten Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Hilfesystemen und Professionen besteht in der Praxis oft hohe Unsicherheit bezüglich der rechtlichen Rahmenbedingungen sowie der praktischen Gestaltung der Kommunikation. Die folgenden Ausführungen sollen zu mehr Handlungssicherheit in diesem Bereich beitragen. Zunächst ist festzuhalten: Datenschutz und Kinderschutz stehen sich nicht entgegen. Der funktionale Schutz der Vertrauensbeziehung ist wichtig für den Aufbau und den Erhalt von Hilfebeziehungen. Dies gilt neben dem Gesundheitsbereich in gleicher Weise vor allem auch für die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.

Elementare Grundsätze

Elementare Grundsätze für den Umgang mit persönlichen Daten sind das Transparenzgebot, das Bestimmtheitsgebot sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Diese beinhalten Folgendes:2

  • Transparenzgebot: Aufklärung über Art und Umfang der Datenerhebung, Datenverarbeitung und Datennutzung, insbesondere Datenspeicherung und Datenweitergabe. Betroffene sollen möglichst zu jeder Zeit nachvollziehen können, was mit den von ihnen preisgegebenen oder über sie gespeicherten Informationen geschehen soll oder bereits geschehen ist.
  • Bestimmtheitsgebot: Strenge Zweckbindung der personenbezogenen Daten. Erhebungs- und Verwendungszweck sind klar und präzise zu bestimmen.
  • Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Die Datenerhebung/-verarbeitung/-nutzung muss zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet, erforderlich (kein gleich geeignetes milderes Mittel vorhanden) und angemessen (Interessenabwägung) sein.
Schweigepflicht nach § 203 StGB

§ 203 StGB, der den Bruch der Schweigepflicht, das heißt die unbefugte Weitergabe von im Rahmen der Berufsausübung erlangten Geheimnissen, unter Strafe stellt, gilt sowohl für Angehörige des Gesundheitsbereichs als auch für Akteure der Kinder- und Jugendhilfe (sowie für die anderen dort genannten Berufsgruppen). Die Schweigepflicht darf nur dann durchbrochen werden, wenn die Weitergabe ausdrücklich gesetzlich geregelt ist oder durch überwiegenden Schutz anderer Rechtsgüter gerechtfertigt erfolgt (insbesondere Schutz des Kindeswohls). Die Befugnis zur Offenbarung kann sich einerseits aus der Einwilligung der Betroffenen, andererseits aus gesetzlichen Offenbarungspflichten und -befugnissen ergeben. Für die verschiedenen Hilfesysteme und Professionen gelten unterschiedliche spezifische Datenschutzvorschriften. Im Folgenden erfolgt eine Auswahl der wichtigsten Ausnahmen von der Schweigepflicht, die für alle Berufsgruppen, die unter die Schweigepflicht nach § 203 StGB fallen, gelten.

Weitergabe personenbezogener Daten ist v. a. in folgenden Fällen zulässig:
  • Weitergabe mit Einwilligung:

    Mit Kenntnis und Einwilligung der Betroffenen ist eine Weitergabe personenbezogener Daten datenschutzrechtlich zulässig. Ist aus ärztlicher Sicht ein Hilfebedarf vorhanden und wird eine Datenweitergabe z. B. an das Jugendamt für hilfreich bzw. nötig erachtet, um beispielsweise weitergehende Hilfen zu ermöglichen, ist das Gespräch mit den Eltern darüber zu führen und um ihr Einverständnis für eine Datenweitergabe an das Jugendamt zu werben. Als Verfügungsberechtigte über ihre Geheimnisse bzw. die ihres Kindes können die Personensorgeberechtigten die jeweiligen Geheimnisträger von ihrer Pflicht zur Verschwiegenheit entbinden. Auf diesem Weg kann möglicherweise die Gelegenheit genutzt werden, mit den Eltern darüber ins Gespräch zu kommen, dass gegebenenfalls schon bald die Grenzen der eigenen Kompetenzen und Hilfemöglichkeiten erreicht sein werden und andere Professionen und Institutionen mit ihren Hilfeangeboten hinzugezogen werden sollten bzw. sogar hinzugezogen werden müssen.3

    ! Hinweis:

    Form und Inhalt der Einwilligung: Die Einwilligung bedarf der Schriftform, soweit nicht wegen besonderer Umstände eine andere Form angemessen ist (vergleiche Art. 15 Abs. 3 Satz 1 Bayerisches Datenschutzgesetz, § 4a Abs. 1 Satz 3 Bundesdatenschutzgesetz). Der Betroffene ist auf den vorgesehenen Zweck der Verarbeitung bzw. der Weitergabe sowie, soweit nach den Umständen des Einzelfalles erforderlich oder auf Verlangen, auf die Folgen der Verweigerung der Einwilligung hinzuweisen (vergleiche Art. 15 Abs. 2 Bayerisches Datenschutzgesetz, § 4a Abs. 1 Satz 2 Bundesdatenschutzgesetz). Eine pauschale Einwilligung („Blankoermächtigung“) ist nicht wirksam.

  • Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB):

    Droht einem Kind oder Jugendlichen eine akute Gefahr, hat der Schweigepflichtige aufgrund des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) die Möglichkeit, sein Wissen notfalls auch gegen den Willen des Patienten bzw. der Personensorgeberechtigten weiterzugeben, wenn er die Gefahr nicht anders beseitigen kann. Die einzelnen Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes sind dabei sorgfältig zu prüfen und zu dokumentieren. Bei der notwendigen Rechtsgüterabwägung überwiegt dabei regelmäßig das Kindeswohl (vor allem Leib und Leben) wesentlich. Wenn sich trotz gewichtiger Anhaltspunkte später herausstellen sollte, dass eine Gefährdung des Kindeswohls tatsächlich nicht vorlag, besteht dennoch Straffreiheit (sogenannter Erlaubnistatbestandsirrtum). Entscheidend ist der Kenntnishorizont zum Entscheidungszeitpunkt (Ex-ante-Beurteilung) und nicht die wissende Sicht im Nachhinein (Ex-post-Beurteilung). Die „Anforderungen an die Prognose hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Kindeswohlgefährdung“ sind „umso geringer, je gewichtiger die Anhaltspunkte und insofern die Risiken [insbesondere je gravierender der zu erwartende Schaden] für das betroffene Kind bzw. des Jugendlichen sind.“4 In jedem Fall ist eine fachliche Entscheidung für den jeweiligen Einzelfall erforderlich.

    Fazit

    Kommen Ärztinnen bzw. Ärzte zur Auffassung, dass

    • eine ernsthafte Gefahr für das Kind bzw. den Jugendlichen besteht (ohne Abwehrmaßnahmen erhebliche Schädigung ziemlich sicher zu erwarten),
    • die eigenen fachlichen Mittel zur Abwehr der Gefahr nicht ausreichen und
    • nur durch Einbindung einer anderen Stelle das Kindeswohl gesichert werden kann (freiwillige Inanspruchnahme benötigter weitergehender Hilfe auch nicht durch Werben zu erreichen bzw. akuter Handlungsbedarf insbesondere bei Gefährdung von Leib oder Leben des Kindes oder Jugendlichen),

    ist eine Weitergabe der Daten auch ohne Einwilligung der Eltern zulässig und im Einzelfall in der Regel sogar geboten.

    Wenn sofortiges Handeln zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung erforderlich ist, darf und muss sofort gehandelt werden (siehe hierzu ausführlich Ziffer 2.3.4.). Bezüglich der Datenübermittlung an das Jugendamt ist zu betonen, dass dieses die gesetzliche Aufgabe hat, das Vorliegen von Gefährdungssituationen abzuklären und darauf adäquat zu reagieren. Hierzu sind die Jugendämter mit einem differenzierten und qualifizierten Handlungsinstrumentarium ausgestattet (siehe Ziffern 2.4.1. und 2.4.3.)5.

    Auch hier gilt bei der Datenweitergabe das Transparenzgebot, das heißt, die Datenweitergabe soll grundsätzlich mit Wissen der Betroffenen erfolgen, soweit der Schutz des Kindes oder Jugendlichen dadurch nicht gefährdet wird.

    ! HINWEIS: PRÜFSCHEMA § 34 StGB 6

    • Gegenwärtige Gefahr für das Kindeswohl
      • Kindeswohlgefährdung: Konkretisierung des Begriffs durch Rechtsprechung des BGH als: „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“
      • Gegenwärtig ist die Gefahr, „wenn nach menschlicher Erfahrung und natürlicher Weiterentwicklung der vorliegenden Sachlage der Eintritt des Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden.“
    • Datenweitergabe als mildestes Mittel: dann gegeben, wenn die sonstigen eigenen Hilfe- und Motivationsmöglichkeiten ausgeschöpft sind.
    • Interessenabwägung: Schutz des Kindeswohls (insbesondere Leben und Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen) – Schutz der Vertraulichkeit der anvertrauten Daten.
  • Art. 14 Abs. 3 und Abs. 6 GDVG:

    Um insbesondere für Gesundheitsämter, Ärztinnen und Ärzte sowie Hebammen und Entbindungspfleger mehr Handlungs- und Rechtssicherheit zu schaffen, wurde in Bayern im Gesundheitsdienst- und Verbraucherschutzgesetz (GDVG) ein zusätzlicher Rechtfertigungsgrund in Art. 14 Abs. 3 und 6 GDVG normiert (Näheres hierzu siehe Ziffer 2.3.4.).

  • Bundeskinderschutzgesetz: § 4 Abs. 3 KKG:

    Im Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG), das zum 01.01.2012 in Kraft getreten ist, werden in § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz - KKG ebenfalls Regelungen zur Beratung und Übermittlung von Information durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdungen getroffen. In § 4 Abs. 3 KKG ist dabei auch eine Befugnisnorm zur Information des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung enthalten (Näheres hierzu siehe Ziffer 2.3.4.).

Was tun bei Unsicherheiten?

Bei Unsicherheiten besteht vor allem die Möglichkeit der anonymisierten Beratung (siehe hierzu Ziffer 2.3.5.). Hilfestellung bei der Einschätzung der Gefährdungslage, insbesondere beim Erkennen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und den richtigen Umgang damit gibt ferner die mit Förderung des StMAS als bayernweite Anlaufstelle eingerichtete Kinderschutzambulanz am Institut für Rechtsmedizin der LMU München (siehe hierzu Ziffer 2.3.6.).

Um für die handelnden Akteure nachhaltig Handlungssicherheit zu schaffen, sollten insbesondere zu dieser Fragestellung die interdisziplinären Kinderschutznetzwerke vor Ort generelle Verfahrensabsprachen zum Umgang mit und zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen treffen. Sinnvoll sind ferner gemeinsame interdisziplinäre Veranstaltungen hierzu (Näheres hierzu siehe auch Ziffern 2.2.2. und 2.2.4.).

2.2.4. Interdisziplinäre Veranstaltungen und Qualifizierungsangebote

Interdisziplinärer Fachaustausch
und Qualifizierung

Sicherheit im Umgang mit den sensiblen und anspruchsvollen Handlungsfeldern im Kinderschutz gewinnt man vor allem durch Qualifizierung (Aus-, Fort- und Weiterbildung). Wichtig ist neben einer breiten Sensibilisierung und fachlichen Qualifizierung vor allem auch das erforderliche Know-how zur strukturellen interdisziplinären Zusammenarbeit und zum Fallmanagement (im Einzelnen siehe hierzu insbesondere Ziffer 2.2.2. sowie Kapitel 4). Zu empfehlen sind insbesondere interdisziplinäre Veranstaltungen (z. B. gemeinsame Fachtagungen, interdisziplinäre Kooperationstreffen und Arbeitskreise, gemeinsame Angebote zur Fort- und Weiterbildung etc.). Im Austausch mit anderen Professionen und Hilfesystemen können gemeinsames Grundlagenwissen über die jeweiligen Aufgabenbereiche, gemeinsame Verfahrens- und Kooperationsabsprachen sowie interdisziplinäre Standards etc. erarbeitet, verstetigt und bei Bedarf weiterentwickelt werden. Gerade die erforderliche Handlungssicherheit für Gefährdungseinschätzungen sowie zu Fragen des Fallmanagements etc. kann im Austausch mit den Kooperationspartnern vor Ort besonders gut gewonnen und nachhaltig implementiert werden.

! Hinweis:

Informationen zum Thema Qualifizierung und insbesondere zu interdisziplinären Veranstaltungen sind unter anderem abrufbar bei:

  • Ärztliche Kreis- und Bezirksverbände: Im Einzelnen siehe Online-Fortbildungskalender der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) unter www.blaek.de.
  • StMAS: Um einen bayernweiten Austausch sicherzustellen und die nachhaltige Etablierung und Weiterentwicklung bayernweiter interdisziplinärer Qualitätsstandards im Kinderschutz zu fördern, finden regelmäßige interdisziplinäre Veranstaltungen statt (vertiefende Informationen hierzu sind auf der Internetversion sowie unter www.kinderschutz.bayern.de enthalten).
  • Kinderschutzambulanz: Die Kinderschutzambulanz des Instituts für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München (siehe Ziffer 2.3.6.) unterstützt das StMAS und die relevanten Partner auf Landesebene bei der Weiterentwicklung des Kinderschutzes in Bayern und leistet ferner mit konkreten Fortbildungsveranstaltungen wichtige Beiträge zur Etablierung bayernweiter interdisziplinärer Qualitätsstandards im Kinderschutz (im Einzelnen siehe www.rechtsmedizin.med.uni-muenchen.de/kinderschutzambulanz).
  • Bayerisches Landesjugendamt: Die Qualifizierung der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe im Kinderschutz ist ein Dauerschwerpunkt im Regelfortbildungsprogramm des Bayerischen Landesjugendamtes (Näheres siehe www.blja.bayern.de).
Erwerb von Fortbildungspunkten

Bei der Teilnahme an (interdisziplinären) Veranstaltungen in Bayern besteht für Ärztinnen und Ärzte sowie für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die Möglichkeit, Fortbildungspunkte der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) zu erwerben. Der Erwerb von Fortbildungspunkten setzt die vorherige Anerkennung der Veranstaltung durch die BLÄK voraus.

! Hinweis für Veranstalter:

Um eine Zuerkennung von Fortbildungspunkten zu erhalten, muss unter anderem ein fachlich-medizinischer Inhalt erkennbar sein. Für die Veranstaltung muss zudem ein ärztlicher Kursleiter bzw. eine ärztliche Kursleiterin bestellt werden und anwesend sein. Die Anmeldung von Fortbildungsveranstaltungen zur Vergabe von Fortbildungspunkten der BLÄK erfolgt online unter www.blaek.de unter der Rubrik Fortbildung/Veranstalterinformationen. Der Antrag muss dort spätestens drei Werktage vor Beginn der Veranstaltung mit entsprechendem Programm gestellt werden. Auf dieser Internetseite finden sich ferner alle wichtigen Fragen und Antworten rund um das Thema Fortbildungspunkte. Darüber hinaus steht unter der Rufnummer 089/ 4147-123 eine telefonische Beratung der BLÄK zur Verfügung. Ein entsprechendes Verfahren erfolgt für die nichtärztlichen (psychologischen) Psychotherapeuten und die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten über die dortige Kammer (www.ptk-bayern.de).

1 Der Begriff Intervention wird in unterschiedlichen Fachbereichen unterschiedlich verwendet. Intervention bedeutet im Folgenden ein zielgerichtetes Eingreifen in einer konkreten Problemlage, um Schaden abzuwenden bzw. zu verringern, siehe auch Glossar, Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“, Werkbuch Vernetzung, 2010.
2 Siehe hierzu Meysen/Schönecker/Kindler, Frühe Hilfen im Kinderschutz, 2009, S. 25 ff., 29, 30.
3 Siehe auch Meysen/Schönecker/Kindler, aaO, 2009, S. 69 ff.
4 Siehe Meysen/Schönecker/Kindler, aaO, 2009, S. 71 ff., 73 f.; vgl. auch Tröndle/Fischer, 2007, § 34 Rn. 11.
5 Siehe auch Meysen/Schönecker/Kindler, aaO, 2009, S. 73 ff., 75.