3. Ärztliche Diagnose und Befunde
    – Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

3.4. Seelische Gewalt

Ulrich Rüth, Franz Joseph Freisleder

3.4.1. Definition und Epidemiologie

Unter den Begriff „seelische Misshandlung“ sind Haltungen, Äußerungen und Handlungen von Bezugspersonen zu fassen, welche das Kind bzw. den Jugendlichen überfordern und ihm das Gefühl von Ablehnung und eigener Wertlosigkeit vermitteln, die das Kind in zynischer oder auch sadistischer Weise herabsetzen oder das Kind bedrohen und terrorisieren (vergleiche Engfer 1986, siehe auch Ziffer 1.1.).

Schwerwiegende Ablehnung,
mit Angst terrorisieren, isolieren

Wesentliche Aspekte seelischer Misshandlung sind (Garbarino und Vondra 1986):

  • Ablehnung: ständige Kritik am Kind, Herabsetzung, zum Sündenbock machen, ein Geschwisterkind ostentativ vorziehen.
  • Terrorisieren: das Kind mit Drohungen ängstigen und einschüchtern.
  • Isolieren: Das Kind von Außenkontakten abschneiden, das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit vermitteln, einsperren.
Beispiel

Ein 7-jähriger unruhiger Junge wird ständig wegen seiner Unruhe kritisiert, beschimpft, von den Eltern gegenüber seiner älteren Schwester als dumm und blöd dargestellt. Bei Mitteilung der Schule über fehlende Hausaufgaben wird er in den Keller gesperrt, wobei die Eltern wissen, dass der Junge große Angst vor der Dunkelheit hat und sie selbst nur wenig um die Vollständigkeit der Hausaufgaben bemüht waren. Vor anderen Erwachsenen wird abfällig von seinen Schwierigkeiten gesprochen, was zu zunehmend depressiv-resignativer Gefühlslage und einer Verstärkung der störenden Verhaltensweisen beiträgt. Aspekte der Vernachlässigung kommen hinzu, als die Eltern eine vorgeschlagene Diagnostik des Kindes ablehnen. Schläge im Sinn von körperlicher Gewalt sind für den Buben selbstverständlich.

Herabsetzen des Selbstwerts

In der US-amerikanischen Literatur wird von „emotionalem Missbrauch“ gesprochen, was damit auch weniger extreme Formen der seelischen Misshandlung umfasst. In Deutschland ist der Begriff „seelische Grausamkeit“ mit einer Vorstellung von sadistischem Elternverhalten verbunden. Aber jedes Verhalten von Bindungspersonen, das den Selbstwert eines Kindes oder Jugendlichen herabsetzt, ist als seelische Misshandlung anzusehen.

3.4.2. Formen seelischer Misshandlung

Spricht man von „seelischer Misshandlung“, so geht man zumeist davon aus, dass die Eltern oder Stiefeltern des betroffenen Kindes die Täter sind. Kinder und Jugendliche können aber auch von anderen Erwachsenen, insbesondere pädagogischen Bezugspersonen oder von Gleichaltrigen seelisch misshandelt werden.

3.4.2.1. Seelische Misshandlung durch Eltern

Seelische Misshandlung durch Bindungs-
personen traumatisiert besonders schwer

Die seelische Misshandlung durch Eltern oder nahe Bindungspersonen ist besonders schwerwiegend, weil ein notwendiger Schutz des Kindes ausgerechnet durch seine von ihm geliebten Bindungspersonen nicht gewährt wird und damit die seelische Misshandlung schwerer traumatisiert, als wenn sie von weniger nahe stehenden Menschen ausgeht. Zudem ist das Kind der seelischen Misshandlung für gewöhnlich wiederholt ausgesetzt und hat damit keine Möglichkeiten einer Selbstwirksamkeit als Traumabewältigung. Insgesamt sind die langfristigen Folgen seelischer Misshandlung schwerwiegender, wenn sie von den Eltern oder nahen Bezugspersonen ausgehen.

3.4.2.2. Seelische Misshandlung durch andere Bezugspersonen

Kein Entschuldigen
einer seelischen Misshandlung

Im Einzelfall kann das Verhalten von pädagogischen Bezugspersonen die Qualität seelischer Misshandlung erreichen. Kompetente Eltern, die auf ihre Kinder eingehen und ihnen glauben und vertrauen, können diese aber gut schützen. Schwieriger wird es, wenn dem Kind nicht geglaubt wird oder die Bezugspersonen sich mit der misshandelnden pädagogischen Autoritätsfigur identifizieren und deren Verhalten entschuldigen.

Beispiel

Verächtliche Bemerkungen eines Lehrers vor der gesamten Klasse mit Abschätzigkeit und Lächerlichmachen quälen einen 13-jährigen, lernschwachen überforderten Schüler. Er hat ohnehin einen schlechten Stand in der Gruppe, ist als Außenseiter auch aktiven Ausgrenzungen durch seine Mitschüler ausgesetzt. Der Lehrer fordert ihn immer wieder zu ihm nicht möglichen Unterrichtsbeiträgen auf und fragt ihn zu Inhalten ab, die er nicht beherrscht. Auch richtige Antworten werden als falsch bewertet.

3.4.2.3. Seelische Misshandlung durch andere Kinder oder Jugendliche

Mobbing bzw. Bullying
durch Gleichaltrige

Seelische Misshandlung durch Gleichaltrige – wie z. B. „Mobbing“ oder „Bullying“ (siehe hierzu auch Ziffern 1.2. sowie 1.4.) – wird von den betroffenen Kindern und Jugendlichen häufig nicht mitgeteilt, weil sie keinen Weg sehen, dieser Form der Misshandlung zu entgehen oder von den Versuchen der Erwachsenen, ihnen zu helfen, enttäuscht wurden.

„Mobbing“ oder „Bullying“ trifft oft Kinder mit einem eher geringen Selbstwertgefühl oder einem ohnehin schwachen Stand in der Gruppe. Körperliche Stigmata oder Krankheiten können zusätzlich zur Ausgrenzung beitragen. Zu bedenken ist, dass gerade seelische Misshandlung unter Gleichaltrigen mit einer hohen Gefahr auch körperlicher Übergriffe einher geht. Sonderformen des Bullying finden sich heute durch ausgrenzendes, missachtendes Verhalten in Internetforen. Hier wissen Eltern oft wenig über die Aktivitäten und Kontakte ihrer Kinder und können ihnen so nicht ausreichend helfen, sich vielleicht auch schon im Voraus zu schützen.

Beispiel

Ein 12-jähriger Gymnasiast wird in seiner Klasse in der Pausensituation von Mitschülern am Boden fixiert. Der Anführer tut so, als trete er ihm mit dem Fuß ins Gesicht. Die Szene spielt sich regelmäßig dann ab, wenn keine Erwachsenen als Zeugen vorhanden sind, was die Kinder untereinander absprechen. Zu anderen Zeiten wird der Junge herabwürdigend benannt, für blöde dargestellt und lächerlich gemacht. Die Lehrkräfte sind mit der Klassengemeinschaft überfordert. Ein selbst psychisch belasteter Studienrat steht wegen völliger Unbeherrschbarkeit der Situation weinend vor der Klasse. Die Situation wird erst im ganzen Ausmaß deutlich, als zwei sozial kompetente Mädchen sich weigern, in dieser Klasse weiter beschult zu werden, und den Unterricht verweigern.

3.4.2.4. Sonderformen seelischer Misshandlung

Eine seelische Misshandlung kann auch in einem von den Bezugspersonen so gar nicht erkannten, aber dennoch zu verantwortenden situativen Zusammenhang vorliegen:

  • Einbeziehung des Kindes bzw. des Jugendlichen in bestehende Partnerkonflikte mit Anheizen eines Loyalitätskonfliktes für das Kind und damit einem Angriff auf die Bindung zum anderen Elternteil.
    Beispiel

    Ein 11-jähriger Junge wird seinem inzwischen von der Mutter geschiedenen Vater, zu dem emotional eine große Hingezogenheit besteht, durch die Mutter entfremdet, indem diese entgegen tatsächlichen Gegebenheiten von der vermeintlich durch den Vater verschuldeten schwierigen finanziellen Situation, von körperlichen Übergrifflichkeiten des Vaters in der Vorgeschichte, terrorisierenden Anrufen und dem Hass auf den Freund der Mutter berichtet.

 

  • Überzogene elterliche Leistungserwartungen an Kinder und Jugendliche im schulischen Kontext mit massiver Einschränkung eines altersangemessenen Lebensvollzugs, z. B. durch stundenlanges Lernen vom Nachmittag bis in den Abend.
    Beispiel

    Ein 13-jähriger lernbehinderter Bub muss täglich sechs bis acht Stunden zu Hause üben, da seine Eltern den erfolgreichen Besuch einer weiterführenden Schule „erzwingen“ wollen.

  • Einbeziehung eines Kindes oder Jugendlichen in die elterlichen Probleme bei elterlicher psychiatrischer Störung. Dies kann vorliegen bei Suizidalität und Wahn eines Elternteils, dem Ausgesetztsein gegenüber extremen elterlichen Stimmungsschwankungen z. B. bei elterlichen Persönlichkeitsstörungen, oder auch einer Suchterkrankung der Eltern. Die sich einstellende emotionale Überforderung kann die Wertigkeit einer seelischen Misshandlung erreichen.
    Beispiel

    Eine 16-Jährige muss den ehelichen Konflikt ihrer in ihrer Persönlichkeit akzentuierten Eltern mit wechselseitigen Androhungen der Selbsttötung, aber auch Androhungen, einander zu töten, miterleben. Bei einem der wiederholten Suizidversuche ihrer Mutter wird sie in Verkennung ihres Alters durch den Notfallarzt in einer Nebenbemerkung darauf hingewiesen, dass es besser wäre, sich nicht im Haushalt der Eltern aufzuhalten, falls dort eine Waffe oder insbesondere Pistole vorhanden sei.

    Beispiel

    Eine an einer Psychose erkrankte alleinerziehende Mutter erzählt ihrem 9-jährigen Sohn ausführlich von ihrem Wahnsystem, fordert ihn auf, den gefährlichen Strahlungen auszuweichen, und ist dann wie bei ihrem letzten Erkrankungsschub in ihren Stimmungen und ihrem Verhalten für den Buben überhaupt nicht mehr verständlich und absehbar.

  • Überzogene und unangemessene Erziehungsmethoden bei kinderpsychiatrisch auffälligen Kindern.
    Beispiel

    Ein motorisch unruhiger, aufmerksamkeitsgestörter Grundschüler mit Schwierigkeiten im Lesen- und Schreibenlernen muss fehlerhafte Texte so lange immer wieder abschreiben, bis sie fehlerfrei sind – was ihm nicht gelingen kann –, und erhält anschließend als Strafe Hausarrest, was ihm aber Restmöglichkeiten seiner Selbstregulation durch motorische Bewegung nimmt. Dann auftretende Gereiztheit wird von den Eltern erneut mit einengenden Bestrafungen und Verlängerungen des Hausarrests geahndet, was die Spirale der Verhaltenseskalation anheizt.

  • Wenn psychiatrisch auffälligen Kindern notwendige Hilfen nicht gewährt werden, können sie einer sie quälenden Leistungsanforderung oder unerfüllbaren Anforderungen an ihr Verhalten ausgesetzt sein. Hier finden sich Übergänge zur Vernachlässigung, da notwendige diagnostische Maßnahmen und vielleicht auch eine medikamentöse Behandlung unterlassen werden.
    Beispiel

    Der Vorschlag seitens der Schule, einen lernschwachen, aufmerksamkeitsgestörten Grundschüler einer Leistungsdiagnostik zu unterziehen sowie kinderpsychiatrisch untersuchen zu lassen, um ihm ausreichende Hilfen wie zusätzliche Förderungen, ggf. eine Medikation und falls notwendig eine passende Beschulung zukommen zu lassen, wird von den Personensorgeberechtigten abgelehnt. Sie erklären, sie selbst hätten die Schule auch geschafft, ihr Sohn solle sich nur anstrengen und weniger faul sein und benötige keine Sonderbehandlungen.

3.4.2.5. Seelische Misshandlung tritt selten alleine auf

Seelische Misshandlung oft
Kombination mit anderen Misshandlungsformen

Seelische Misshandlung tritt selten als einzige Misshandlungsform auf. Wer bereit ist, sein Kind seelisch zu misshandeln, für den ist die Schwelle zu körperlichen Übergriffen oft herabgesetzt. Bei Hinweisen auf seelische Misshandlung muss daher immer auch an die Möglichkeit einer körperlichen und sexuellen Gewalt und ggf. Vernachlässigung gedacht werden. Auch seelische Misshandlung durch andere Kinder kann mit körperlicher Gewalt einhergehen, was bei Befragungen beachtet werden muss.

Hinweise auf körperliche
Strafen beachten

Eltern, die ihr Kind viel bestrafen, probieren oft alle Formen der Bestrafung aus. Gerade misshandelnde körperliche Bestrafungen gehen oft mit zusätzlichen seelischen Misshandlungen durch Beschimpfung und ungerechtfertigtes Kritisieren und Wertlosmachen einher. Eltern verprügeln nicht wortlos.

Bei einer körperlichen Untersuchung sind wegen des Zusammenhangs seelischer Misshandlung mit körperlicher Gewalt gerade diskrete Spuren wichtig und die gegebenen Erklärungsmodelle für Verletzungsfolgen zu überprüfen.

3.4.3. Untersuchung und Befunderhebung

Seelische Misshandlung kann
vorhandene Probleme verstärken

Für die Befunderhebung bei der seelischen Misshandlung ist der Bericht über das misshandelnde Verhalten entscheidend. Beobachtbare psychische Symptome seelisch misshandelter Kinder bzw. Jugendlicher haben zwar oft ihre Ursache in der Misshandlung. Es können aber bereits zuvor vorhandene Entwicklungsstörungen oder auch kinderpsychiatrische Probleme die Misshandlungsgeschehnisse angestoßen haben. Seelisch misshandelte Kinder bzw. Jugendliche haben selten eine sichere Bindung verinnerlicht. Dies macht sie gefährdeter für ungünstige Folgen der seelischen Misshandlung in Richtung eines verminderten Selbstwerts und einer sich hieran anschließenden ungünstigen Entwicklungsspirale.

Da psychische Symptome unspezifisch sind, lässt es sich aus der Vielzahl möglicher Symptome nicht sicher auf eine seelische Misshandlung schließen. Bestenfalls bei beobachtbaren, typischen Symptomen einer posttraumatischen Störung mit z. B. wiederkehrenden Albträumen von misshandelnden Situationen, Schreckhaftigkeit, affektiver Dysregulation, Ängsten und dissoziativen Symptomen könnte man bei einem noch fehlenden Bericht über eine seelische Misshandlung grundsätzlich an traumatisierende Gewalterfahrungen denken.

3.4.4. Dokumentation

Aussagen wörtlich dokumentieren

Wie bei allen Formen nicht „objektiver“, sondern nur berichteter Umstände ist die möglichst wörtliche Dokumentation einer Aussage entscheidend (siehe hierzu auch Ziffer 4.2.10.). Dazu gehören scheinbar nebensächliche Einzelheiten der Aussage ebenso wie die psychische Befindlichkeit des Kindes oder Jugendlichen bei der Aussage. Die Dokumentation von Einzelheiten der Aussage ist deshalb von großer Bedeutung, weil sie später die Glaubwürdigkeit in besonderer Weise stützen können, gerade wenn diese Einzelheiten über den eigentlichen Inhalt der Aussage hinausgehen. Sollten spontane Verbesserungen eintreten, gehören auch diese solide dokumentiert.

3.4.5. Folgen seelischer Misshandlung

Folgen oft unspezifisch

Anders als bei der körperlichen Gewalt sieht man am Kind zunächst keine Folgen der seelischen Misshandlung. Kinder distanzieren sich zunächst nicht von ihrer Bezugsperson, und ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit reicht häufig nicht aus, um von subtilen Varianten seelischer Misshandlung zu berichten. Symptome von seelisch misshandelten Kindern sind oft so unspezifisch, dass z. B. von einer kindlichen Depression nicht auf eine seelische Misshandlung geschlossen werden kann.

Wie schwerwiegend die entstehenden Folgen sind, hängt auch vom betroffenen Kind [bzw. Jugendlichen] und seiner Persönlichkeit ab. Deshalb ist die Feststellung dieser Misshandlungsform besonders schwierig.

Erkennen seelischer Misshandlung
nur über Wertesystem möglich

Seelische Misshandlung zu benennen und damit objektiv festzustellen, ist nur über ein verbindliches Wertesystem möglich, welches in der Erziehung auf einer unbedingten seelischen Unversehrtheit des Kindes aufbaut und diese für die Entwicklung von Kindern als zentral ansieht. Deshalb können hier multikulturelle, aber auch subkulturelle Einstellungen andere Wertevorstellungen hinsichtlich des Kindeswohls beinhalten. Seelische Misshandlung als Begriff ist also nur im Kontext der jeweiligen umgebenden Gesellschaft zu sehen. Gleichzeitig ist der Begriff auch einer historischen Entwicklung ausgesetzt.

Seelische Misshandlung
in historischem und kulturellem Kontext

Historischer Exkurs: Erst in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der Begriff der „elterlichen Gewalt“ durch den Begriff der „elterlichen Sorge“ ersetzt. Und erst nach der Jahrtausendwende wurde in Deutschland ein Gewaltverbot in der elterlichen Erziehung gesetzlich eingeführt. Schwedische Untersuchungen aus den 1980er Jahren zeigten, dass die Einführung des Gewaltverbots zu einer Abnahme körperlicher Züchtigungen mit einem Anteil von anfänglich 75 % auf 50 % aller Kinder einherging. Auch die gesellschaftlichen Einstellungen und Entwicklungen gegenüber seelischer Misshandlung sind in ihrem kulturellen und historischen Kontext zu verstehen. Eltern- und Bezugspersonenverhalten wird heute deutlich anders bewertet als vor 50 oder gar 100 Jahren.

Frühere Traumata machen
anfälliger für Misshandlungsfolgen

Wie schwerwiegend die Folgen seelischer Misshandlung für ein Kind oder einen Jugendlichen sind, hängt von seinem Alter, seiner seelischen Verfassung, eventuell auch von den intellektuellen Fähigkeiten und den damit denkbaren Ausweich- und Bewältigungsmöglichkeiten, aber auch von den jeweiligen Vorerfahrungen ab. Bereits erlebte frühere Traumata und anschließend erlebte Schutzlosigkeit machen anfälliger für künftige Traumafolgen.

Bindung an Misshandelnde führt
anfangs zu Anpassungsleistungen

Eine vorhandene Bindung an ihre Misshandler führt die seelisch misshandelten Kinder zunächst zu Adaptationsleistungen. Obwohl sie im Keller eingesperrt waren und Todesängste erlebten, präsentieren sie sich anschließend brav und fröhlich, um drohenden weiteren Misshandlungen zu entgehen und den unberechenbaren Misshandler „bei Laune“ zu halten. Erst wenn diese Kinder sich nicht mehr anpassen können, zeigen sie deutlichere Symptome, beispielsweise Angstzustände, Panikreaktionen oder auch eine schwierigere erzieherische Führbarkeit bzw. ein Schulversagen.

Aber gerade auch Kinder, die schon ursprünglich in ihrer Anpassungsleistung und Selbstregulation beeinträchtigt sind, werden vermehrt Opfer von seelischen Misshandlungen, die aufgrund eines geringen Selbstwertgefühls umso schwerwiegender wirken.

Wenn Eltern selbst ihr übergriffiges oder misshandelndes Verhalten benennen und sich so einer Diskussion öffnen, sind Voraussetzungen für eine Veränderung auf der Elternebene günstiger. Wenn Eltern bereit sind, ihr Verhalten zu reflektieren und zu verändern, kann eine Vermittlung an fachliche Stellen wie Jugendämter oder andere Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Erziehungsberatungsstelle, Angebote des Kinderschutzbundes etc.) erfolgreich sein, um weitere Hilfen zu definieren und umzusetzen (zu den Angeboten und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe siehe Ziffer 2.4.).

Ungünstige Langzeitprognose
für seelisch Misshandelte

Langfristig haben Kinder und Jugendliche, welche eine seelische Misshandlung erlebt haben, deutlich ungünstigere Entwicklungsmöglichkeiten als Nichtbetroffene. Im Erwachsenenalter werden früher seelisch Misshandelte eher Opfer von Bullying oder Mobbing oder geraten in dysfunktionale Partnerbeziehungen. Sie werden so chronisch in ihrem Selbstwert, ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit, aber auch in ihrer Persönlichkeitsentfaltung eingeschränkt.

3.4.6. Fallmanagement bei seelischer Gewalt

Einbindung des Jugendamtes

Werden seelisch misshandelnde Verhaltensweisen beobachtet oder berichtet, aber von den Eltern verleugnet, bestehen in der Regel nur geringe Interventionschancen. Gerade hier ist die Einschaltung Dritter zur Abklärung weiterer erforderlicher Maßnahmen notwendig:

  • Beratung mit dem Jugendamt (auch anonym möglich),
  • ggf. Mitteilung an das Jugendamt.

! Hinweis:

Zum konkreten Fallmanagement im Einzelnen siehe auch Kapitel 4, zu den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen interdisziplinärer Zusammenarbeit siehe insbesondere Kapitel 2.

Das Jugendamt ist kraft Gesetzes die zentrale Stelle, wenn es um Fragen des Kinderschutzes und insbesondere die Klärung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung sowie die Sicherstellung des Kindeswohls geht. Eine Handlungspflicht zur Einbindung des Jugendamtes besteht, wenn aus ärztlicher Sicht eine solche zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung erforderlich ist (im Einzelnen siehe Ziffern 2.3.3. und 2.3.4.).

3.4.6.1. Grundsätzliche Interventionsmöglichkeiten

Verhalten der Eltern ausschlaggebend

Wird eine seelische Misshandlung festgestellt, so spielt die Persönlichkeit der Eltern eine bedeutende Rolle für das weitere Vorgehen.

  • Sind psychiatrische Krankheiten bei betroffenen Eltern bekannt, muss die Fähigkeit der Realitätskontrolle der Eltern, das Maß ihrer Überforderung und die von ihnen ausgehende Gefahr eingeschätzt werden:
    • Beratung mit dem Jugendamt über das weitere Vorgehen,
    • Informationen zur psychiatrischen Behandlung der Eltern einholen, Absprache mit Behandlern der Eltern (grundsätzlich mit Zustimmung des Patienten).
  • Sind spezielle Persönlichkeitsstörungen bei den Eltern bekannt oder zu vermuten, muss etwa bei sadistischen Verhaltensweisen immer auch an die Möglichkeit körperlicher Gewalt durch die Eltern gedacht werden:
    • Körperliche Untersuchung, Befunderhebung,
    • Beratung mit dem Jugendamt über das weitere Vorgehen, auch abhängig von erhobenen weiteren Befunden.
  • Können Eltern ihre eigene Überforderung benennen und ist ihr seelisch misshandelndes Verhalten die Wiederholung ihrer eigenen Erfahrung, sind über den Weg besonderer Hilfemaßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe Schutzmöglichkeiten für das Kind gegeben:
    • Beratung mit dem Jugendamt über das weitere Vorgehen.
    • Einbindung des Jugendamtes auch durch eigene Initiative der Eltern, dann aber Überprüfung, ob Hilfen angenommen wurden.

3.4.6.2. Seelische Misshandlung durch die Eltern bzw. Personensorgeberechtigte

Bei Anhaltspunkten für seelische Misshandlung gilt es zu überprüfen:

  • Sind die Eltern in der Lage, ihr Verhalten in Frage zu stellen und sich auf alternative Verhaltensweisen einzulassen? Sehen sie ihr Verhalten als Überforderungsreaktion, oder rechtfertigen sie ihr Verhalten? Sind sie bereit, erzieherische Hilfen anzunehmen?
    Falls ja:
    • Einbindung des Jugendamtes auf freiwilliger Basis mit dem Ziel
      • erzieherische Hilfen für die Eltern,
      • Diagnostik und Hilfen für das betroffene Kind bzw. den Jugendlichen über Mitarbeit der Eltern.
  • Seelisch misshandelnde Eltern, die nicht bereit oder in der Lage sind, ihr Verhalten zu ändern, gefährden das Kindeswohl:
  • Einbindung des Jugendamtes mit gemeinsamer Beratung zum weiteren Vorgehen,
  • Überprüfung, ob eine vielleicht auch nur vorübergehende Herausnahme des Kindes aus der Familie notwendig ist (Inobhutnahme durch das Jugendamt, siehe Ziffer 2.4.3.).

3.4.6.3. Seelische Misshandlung durch Dritte

Können Personensorgeberechtigte
selbst aktiv werden

Es gilt zu überprüfen:

  • Sind die Eltern/Personensorgeberechtigten in der Lage, das misshandelnde Verhalten zu erkennen und selbst zu intervenieren, um das Kindeswohl sicherzustellen?
    • Einbindung des Jugendamtes auf freiwilliger Basis, um die Eltern in ihrem Bemühen, das Kind zu schützen, zu unterstützen.
    • Ggf. freiwillige Einschaltung weiterer Helfer, z. B. kinderpsychiatrische Diagnostik zur Hilfedefinition gemeinsam mit dem Jugendamt.

3.4.6.4. Akute Gefährdung des Kindeswohls – akute Interventionen

Je sadistischer die seelische Misshandlung,
umso eher auch andere Gewaltformen

Es gilt zu überprüfen:

  • Müssen seelisch misshandelte Kinder bzw. Jugendliche umgehend vor den Eltern geschützt werden? Besteht eine akute Form der Gefährdung? Je sadistischer die seelische Misshandlung angelegt ist, umso größer ist die Gefahr, dass weitere Gewaltformen hinzutreten.
    • Beratung mit dem Jugendamt zum weiteren Vorgehen, gegebenenfalls Inobhutnahme des Kindes bzw. Jugendlichen.
  • Welche eigenen Störungen des Kindes bzw. Jugendlichen haben zu misshandelndem Elternverhalten beigetragen? Welcher Hilfebedarf besteht aufgrund kindlicher Störungen? Welche aktuellen Störungen bestehen jetzt, was war vorbestehend, was ist Misshandlungsfolge?
Bei Herausnahme aus der Familie
an weiterführende Diagnostik des Kindes denken!

Auch bei Herausnahme des Kindes bzw. Jugendlichen (zur Inobhutnahme siehe Ziffer 2.4.3.) muss unbedingt an eine weiterführende Diagnostik gedacht werden, um spezifische, über die Akutmaßnahme hinausgehende Hilfen für das Kind bzw. den Jugendlichen zu definieren und umsetzen zu können:

  • kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik – Behandlung,
  • psychotherapeutische Behandlung/Traumabehandlung,
  • Modellierung des weiteren Lebensumfeldes (Beschulung, Wohnsituation),
  • Klärung der Beziehungssituation zu den Misshandlern, Überprüfung, inwieweit Kontakt mit diesen hilfreich oder schädlich ist.
Tabelle 8: Misshandlungsformen, Symptome, Befunde und Interventionen
Misshandler Misshandlungsformen Symptome Befunde Interventionen
Eltern Seelische Misshandlung bei Überforderung. Unspezifische Symptome, z. T. Verstärkung bereits früher bestehender Regulationsprobleme. Eltern berichten ihr eigenes Verhalten. Freiwillige Hilfen möglich.
Seelische Misshandlung als Folge elterlicher Persönlichkeitsprobleme. Unspezifische Symptome, z. T. anfänglich angepasste, aber emotional eingefrorene Kinder. - Misshandlung wird anfangs eher beiläufig berichtet. - Misshandlung wird vom Kind berichtet, wenn sie unerträglich geworden ist. - Dem Kind/Jugendlichen Glauben schenken. - Beratung mit dem Jugendamt. - Unfreiwillige Hilfen überprüfen. - Intervention ggf. auch gegen den Willen der Eltern.
Seelische Misshandlung in Verbindung mit anderen Misshandlungsformen. - Spuren körperlicher oder sexueller Gewalt. - Übrige Symptome eher unspezifisch. - Misshandlung wird berichtet wenn für das Kind unerträglich geworden. - Zusätzlich körperliche Befunde. - Beratung mit Jugendamt. - Herausnahme aus Familie prüfen.
Andere Erwachsene Herabsetzungen durch pädagogische Bezugspersonen. - Unspezifische Symptome. - Ggf. Verweigerung des Kontakts mit der Bezugsperson (Schulverweigerung). - Im Selbstwert ohnehin geschwächte Kinder/Jugendliche. - Eltern, die gegenüber Institutionen eher hilflos wirken. - Eltern glauben ihren Kindern zu wenig. - Eltern wirken mit dem Verhalten Dritter überfordert. - Eltern in ihrem Vertrauen auf ihre Kinder stützen - Unterstützung für Eltern für deren weiteres Vorgehen vermitteln. - Beratung mit Jugendamt .
Andere Minderjährige Bullying und Mobbing z. B. durch Schulkameraden. - Im Selbstwert ohnehin geschwächte Kinder/Jugendliche. - Kinder/Jugendliche mit Problemen in der Gruppenintegration. - Unspezifische Symptome. - Kinder berichten ihren Eltern zu spät. - Lehrer erkennen Ausmaß der Situation zu spät. - Eltern sind mit der Gesamtsituation überfordert. - Kontakt zwischen Kindern/Jugendlichen und Bezugspersonen fördern. - Bezugspersonen informieren. - Beratung mit Jugendamt und Schule.

3.4.7. Fallbeispiele aus der Praxis

Fallbeispiel 1

Noch während der Kindergartenzeit wird ein Mädchen von seinen Eltern regelmäßig mit Kleidung ausgestattet, in der es sich bekanntermaßen schämt. Versuche des Kindes, der Bekleidung durch Einnässen zu entgehen, beantwortet die Mutter mit der Anschaffung mehrerer gleicher Garnituren. Bei Einkäufen in der Stadt muss das Kind an bestimmten Örtlichkeiten manchmal stundenlang auf die Mutter „brav“ warten. In der Grundschulzeit beginnt eine systematische Demotivierung, indem dem Kind vorgehalten wird, es sei dumm, könne nicht lernen, tauge sowieso nichts. Durch häufige Kinderarztbesuche wird gleichzeitig die besondere Fürsorglichkeit demonstriert, wobei das Kind über medizinische Themen in Ängste versetzt wird. Eine im frühen Jugendalter eingeschaltete Kinderpsychologin ist zwar über die Destruktionsfantasien des Kindes und seine emotionale Verstörtheit irritiert, lässt sich aber von den perfekten Umgangsformen der Eltern und deren dargestellter glaubhafter Besorgnis über den seelischen Zustand der Tochter blenden. Eine weiterführende Therapie kommt aufgrund der von den Eltern vorgegebenen Verweigerung des Kindes nicht zustande. Im Jugendalter steigert sich das missachtende Verhalten der Eltern. Verwandte wissen um die Not des Kindes, sehen aber bei äußerlich sehr guter Versorgung keine Interventionschancen. Eine befreundete Familie nimmt die Jugendliche immer wieder kurzfristig auf, erfährt aber dennoch nicht das tatsächliche Ausmaß der Herabsetzung, Verächtlichmachung und Degradierung im Elternhaus. Die Eltern wollen eine geschlossene Unterbringung ihrer Tochter. Die Jugendliche kann sich allerdings gegenüber dem Jugendamt aufgrund ihrer Lerngeschichte so gut angepasst zeigen, dass seitens der Behörde anstelle der geschlossenen Unterbringung ambulante Hilfen angeboten werden. Die ambulanten Hilfeangebote nehmen die Eltern nicht an, und es erfolgt kein weiterer Hilfeprozess. Eine Handhabe für „zwangsweise“ Hilfen zugunsten der Jugendlichen besteht aufgrund der Informationslage des Jugendamtes nicht. Erst der Schulabbruch kurz vor Volljährigkeit und die „Flucht“ zu einem Partner beenden die häusliche seelische Misshandlung. Aufgrund ihrer Vorerfahrungen kann die Jugendliche Hilfen des Jugendamtes nicht mehr annehmen. Seitens des Jugendamtes wird aufgrund des Alters der Jugendlichen keine weitere Intervention avisiert.

Bei dieser Jugendlichen waren zwar dem Umfeld und zum Teil auch professionellen Helfern erhebliche erzieherische Missstände bekannt. Bei äußerlich guter Versorgung wurde allerdings nicht ausreichend auf die Möglichkeit schwerwiegender seelischer Misshandlung geachtet. Das tatsächliche Ausmaß der seelischen Misshandlung wurde somit nicht erkenntlich, sodass notwendige Hilfen nicht zustande kamen.

Fallbeispiel 2

Ein 12-jähriger, gemeinsam mit seinem Bruder aus dem Ausland adoptierter Junge wird in seiner Adoptivfamilie gegenüber dem Bruder deutlich herabgesetzt, degradiert und als schlecht und unfähig bezeichnet. Er ist der Sündenbock der Familie und wird gegenüber seinem Bruder massiv ungerecht behandelt, wobei der ältere Bruder Lügen verbreitet. Der etwas ältere Bruder ist eher ruhig, schulisch sehr erfolgreich und im Verhalten angepasst. Der 12-Jährige zeigt ein lebendigeres Temperament und schulisch gewisse Probleme, was eine familiäre Dynamik seelischer Ausgrenzung weiter anheizt, die sich im Weiteren völlig verselbstständigt. Der Kinder- und Jugendarzt der Familie sieht einerseits die schulische Situation, aber auch die Verhaltensprobleme des Jungen, und drängt zu einer eingehenderen Diagnostik, die zunächst abgelehnt wird. Nach Beratung des Kinder- und Jugendarztes mit dem Jugendamt können die Eltern dann doch zu einer zunächst ambulanten Diagnostik motiviert werden. Dort deutet sich die seelisch misshandelnde Situation zu Hause verstärkt an. Die klinischen Hinweise lassen mindestens an eine weitere stationäre Diagnostik, aber durchaus auch an eine Herausnahme des Jungen aus der Familie denken.

Die Eltern wünschen keine stationäre Aufnahme vor Ort. In der gewählten, weiter entfernt liegenden Klinik erscheint der Vater zu keinem Zeitpunkt. Dort wird deutlich, dass der Junge zwischenzeitlich erhöhter pädagogischer Unterstützung bedarf und die Unterbringung in einer heilpädagogisch-therapeutisch ausgerichteten Einrichtung sinnvoll wäre. Eine Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt wird von der Mutter zunächst verweigert und als nicht nur unnötig, sondern am Bedarf vorbeigehend dargestellt. Nach Beratung und Absprache mit dem Jugendamt hinsichtlich einer Inobhutnahme und Signalen des Jungen, nicht nach Hause zurück kehren zu wollen, wird den Eltern die Gesamtsituation dargelegt. Diese lenken nur vordergründig ein und lehnen letztlich notwendige Hilfen ab, sodass seitens des Jugendamtes ein sorgerechtlicher Eingriff über das Familiengericht erwirkt wird. Die Eltern bleiben weiterhin uneinsichtig und schreiben die Schuld den Behörden, gleichzeitig aber auch ihrem Jungen und seiner vermeintlichen Bösartigkeit zu. Die Mutter hält bei aller Widersprüchlichkeit einen gewissen Kontakt zu ihrem Adoptivsohn, der mit seinem vollen Einverständnis und erleichtert vom Jugendamt in einer Einrichtung untergebracht wird.

Mit Hilfe eines schrittweisen Vorgehens und gelungener Absprachen der beteiligten Fachleute untereinander konnten im Rahmen des Hilfeprozesses sowohl die fehlende Bereitschaft der Eltern zu konstruktiver Zusammenarbeit belegt, wie notwendige Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls erfolgreich umgesetzt werden.