3. Ärztliche Diagnose und Befunde
– Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
3.3. Vernachlässigung
3.3.1. Definition und Epidemiologie
Vernachlässigung ist die wiederholte oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns durch sorgeverantwortliche Personen (Eltern oder andere autorisierte Betreuungspersonen), das zur Sicherung der seelischen und körperlichen Bedürfnisse des Kindes bzw. Jugendlichen notwendig wäre (siehe auch Ziffer 1.1.).
Elementare Bedürfnisse
Zu den elementaren Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen zählen:
- solche körperlicher Art (wie essen, trinken, schlafen),
- Schutzbedürfnisse,
- Bedürfnisse nach Verständnis, Wertschätzung und sozialer Bindung,
- Bedürfnisse nach Anregung, Spiel und Leistung und
- Bedürfnisse nach Selbstwirksamkeit.
Bedürfnisse des Kindes, wie auch deren Vernachlässigung, können anhand verschiedener Hierarchiestufen wahrgenommen und beurteilt werden, die aufeinander aufbauen (Maslowsche Bedürfnispyramide). Einen hungrigen Säugling kann man beispielsweise nicht auf Dauer durch Ablenkung und Spiel zufriedenstellen, statt ihm zu essen zu geben.
Vernachlässigung tritt
am häufigsten im Kleinkindalter auf
In Deutschland gibt es bislang keine verlässlichen epidemiologischen Daten zur Häufigkeit von Vernachlässigungen (siehe auch Ziffer 1.2.). Eine aktuelle Untersuchung der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm einer größeren Stichprobe aus 21 Kinderbetreuungseinrichtungen zeigt bei 5,3 % der Kleinkinder Hinweise auf Vernachlässigung, was sich mit bisherigen Schätzungen deckt. In einer Längsschnittstudie der Kinderklinik der Universität München fanden sich bei 2 – 3 % aller stationär aufgenommenen Patienten Hinweise auf Vernachlässigung oder Misshandlung. Kindesvernachlässigung kann in allen Altersgruppen auftreten, die Gefahr ist aber in den ersten fünf Lebensjahren am höchsten. Die meisten Todesfälle treten im ersten Lebensjahr auf.
In einer Untersuchung von 318 Fällen von Kindeswohlgefährdung aus 16 unterschiedlichen Jugendämtern war jedes dritte Kind mit Vernachlässigung als Hauptgefährdungsmerkmal unter drei Jahre alt (35,2 %), jedes fünfte Kind (18,2 %) unter einem Jahr, annähernd gleich viele Kinder waren im Kindergartenalter (20,1 %). In mehr als 60 % dieser Fälle wurde eine mangelnde Ernährung konstatiert, in 55 % eine unzureichende Gesundheitsvorsorge. In 56 % der Fälle bekamen die Kinder mangelnde Zuwendung durch die Erziehungspersonen, in 60 % wurden notwendige Spiel- und Erfahrungsmöglichkeiten für die Kinder nicht bereitgestellt und in 67 % fehlte es an intellektueller Förderung (IKK-Nachrichten Nr. 2/ 2001).
3.3.2. Formen von Vernachlässigung
Vernachlässigung kann körperlich,
erzieherisch oder emotional erfolgen
Anzeichen von Vernachlässigung können körperlich, erzieherisch oder emotional auftreten. Häufig gehen mehrere dieser Formen einher. Handlungen, die unter Vernachlässigung fallen, sind insbesondere:
- unzureichende Grundversorgung (mangelnde Ernährung, unzureichende Körperpflege),
- mangelnde Gesundheitsfürsorge,
- mangelnde Aufsicht (z. B.: Säuglinge, Kleinkinder werden alleine gelassen),
- unzureichende oder inadäquate Anregung für das Kind.
Die Unterlassung fürsorglichen Handelns kann absichtlich oder unabsichtlich erfolgen. Unabsichtliche Vernachlässigung liegt bei mangelnder Einsicht, Nichterkennen von Bedarfssituationen oder unzureichenden Handlungsmöglichkeiten der sorgeverantwortlichen Personen vor, absichtliche dagegen, wenn sie wissentlich die Erfüllung wesentlicher Bedürfnisse des Kindes bzw. Jugendlichen verweigern oder behindern.
3.3.3. Folgen von Vernachlässigung
Gefährdung der körperlichen,
geistigen und sozial-emotionalen Entwicklung
Vernachlässigung hemmt, beeinträchtigt oder schädigt die körperliche, geistige und seelische Entwicklung eines Kindes bzw. Jugendlichen. Sie kann zu gravierenden, bleibenden Schäden oder gar zum Tod insbesondere von Kindern führen oder beinhaltet zumindest ein hohes Risiko für solche Folgen. Vernachlässigung weist immer auf eine massive Beziehungsstörung zwischen Eltern und Kind hin.
Grundsätzlich ist zu bedenken: Je jünger die betroffenen Kinder sind und je tiefgreifender die Vernachlässigung ist, desto größer ist das Risiko für bleibende Schäden. Für Säuglinge können Versorgungsmängel schon nach kurzer Zeit lebensbedrohlich sein. Die Nichtversorgung eines Säuglings oder Kleinkindes über einen Tag oder eine Nacht kann bereits zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und lebensbedrohlichen Situationen führen. Je jünger das Kind ist, desto schwerwiegender muss dessen Gefährdung eingeschätzt werden. Gleiches gilt bei zusätzlicher Krankheit oder Behinderung.
Gefährdung der Gesundheit
und der körperlichen Entwicklung
Vernachlässigung kann im schlimmsten Fall zum Tod eines Kindes führen. Rechtsmedizinische Befunde aus Deutschland zeigen, dass jährlich vier bis sieben meist sehr junge Kinder durch Vernachlässigung verhungern oder verdursten, internationale epidemiologische Daten lassen vermuten, dass deutlich mehr Kinder jährlich durch Unfälle infolge mangelnder Beaufsichtigung ums Leben kommen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Vernachlässigung im Vergleich zu körperlicher Gewalt oft als weniger gefährlich eingestuft. Epidemiologische Befunde zeigen aber: Schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die im direkten Zusammenhang mit Vernachlässigung stehen, treten nahezu genauso häufig auf wie bei körperlicher Gewalt.
Beispiel
Ein 2-jähriger Junge wird zur U7 vorgestellt, er wiegt 8,1 kg (deutlich unter der dritten Perzentile). Die vorausgegangenen Früherkennungsuntersuchungen sind unvollständig durchgeführt, der Kinder- und Jugendarzt wurde bereits zweimal gewechselt. Auf das massive Untergewicht angesprochen, meint die Mutter, der Junge schlage halt nach dem Vater, der sei auch eine Bohnenstange. Ein Vergleich mit der dokumentierten U6 ergibt, dass der Junge seit einem Jahr nur 200 g zugenommen hat. Die Mutter meint dazu, sie hätten halt keine Waage im Haus, eine solche bräuchten sie auch nicht, bei dem, was der Kleine esse, sei es ja kein Wunder, dass er so wenig wiege.
Gefährdung der kognitiven
und schulischen Entwicklung
Vernachlässigte Kinder und Jugendliche zeigen als Gruppe in ihren Schulnoten wie auch in standardisierten Tests ihrer kognitiven Fähigkeiten unterdurchschnittliche Leistungen. Laut internationalen Studien werden sie häufiger auf Förderschulen verwiesen. Es ist anzunehmen, dass dies auch auf Deutschland übertragbar ist.
Gefährdung der
sozial-emotionalen Entwicklung
In betroffenen Familien ist häufig eine grundlegende Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit der Eltern festzustellen. Die elterlichen biografischen Erfahrungen sind oft von Nichtbeachtung, strafendem oder ablehnendem Verhalten der eigenen Eltern geprägt. Infolgedessen ist den Eltern meist nicht bewusst, was ihren Kindern fehlt oder was sie ihnen vorenthalten. Fehlendes Wissen um die kindlichen Bedürfnisse, unrealistische Erwartungen und mangelndes Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse der Kinder (sogenannte Mentalisierungsdefizite, Empathiemangel) führen zu gestörten Interaktionen und Beziehungen. Körperlich und/oder emotional vernachlässigte Kinder und Jugendliche sind daher häufig in ihrer eigenen Bindungsentwicklung beeinträchtigt und zeigen dementsprechend gehäuft ein unsicheres Bindungsverhalten. Ihr Vertrauen in positive Reaktionen der Bezugspersonen, gerade wenn sie Gefühle von Kummer oder Angst zeigen, ist eingeschränkt oder fehlt gänzlich. Die problematischen frühen Bindungserfahrungen können sich ungünstig auf die psychische Widerstandskraft des Kindes bzw. Jugendlichen (Resilienz), seine Ich-Stärke und sein Selbstvertrauen sowie sein Verhalten in sozialen Beziehungen, aber auch in Lern- und Leistungssituationen auswirken.
Beeinträchtigungen
der psychischen Gesundheit
Vernachlässigte Kinder und Jugendliche haben ein erhöhtes Risiko sowohl für Depressionen, Ängste, sozialen Rückzug, Schulvermeidung etc. (internalisierende Störungen) als auch für unkontrollierte Aggressionen, Unruhe, Hyperaktivität etc. (externalisierende Störungen). Auch das generelle Risiko für die Entwicklung einer psychiatrischen Störung ist erhöht.
3.3.4. Risikofaktoren für Vernachlässigung
Je mehr Risikofaktoren,
umso größer die Wahrscheinlichkeit
Da sich konkrete Hinweise für Vernachlässigung im Kindesalter oft nicht so eindeutig wie bei aktiven Formen von Misshandlung finden lassen, ist die Erfassung von Risikofaktoren umso wichtiger. Sie kann dem Untersuchenden helfen, in der Anamnese- und Befunderhebung gezielt auf konkrete Hinweise zu achten. Auch wenn Risikofaktoren nicht mit manifester Kindesvernachlässigung verwechselt werden dürfen, gilt doch: Je mehr Risikofaktoren bestehen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit für eine manifeste Vernachlässigung. Obwohl es keine spezifischen Risikofaktoren gibt, erscheinen neben allgemeinen psychosozialen Risikofaktoren wie Armut, sozioökonomischen Belastungen, Disharmonie zwischen den Eltern etc. insbesondere folgende Risikobedingungen von Bedeutung (siehe hierzu auch Ziffer 1.3.):
- Biografische elterliche Belastungen
- Broken-Home-Geschichte, Kriminalität in der Vorgeschichte
- Elterliche Traumatisierungen
- Einstellungen und Verhalten gegenüber dem Kind in der Schwangerschaft
- Ungewollte Schwangerschaft
- Kaum/keine Vorsorgeuntersuchungen
- Mangelnde Selbstfürsorge
- Persönlichkeitsfaktoren der Eltern
- Geringe Impulskontrolle
- Mangelnde Problem- und Stressbewältigungskompetenzen
- Psychische Störungen, Suchtmittelmissbrauch oder -erkrankung
- Frühe Elternschaft (< 18. Lebensjahr)
- Intelligenzminderung
- Bereits erfolgte Vernachlässigung/Misshandlung eines Kindes in der Vergangenheit
- Kindliche Merkmale
- Schwieriges Temperament
- Erhöhte Fürsorge- und Versorgungsanforderungen an die Eltern (Frühgeburt, Mehrlinge, chronische Erkrankungen und Behinderungen)
Wechselspiel zwischen
Risiko- und Schutzfaktoren
Risikofaktoren entfalten ihre Wirkung im Wechselspiel mit vorhandenen Ressourcen und Schutzfaktoren (siehe auch Ziffer 1.3.). Eine Risikoeinschätzung kann daher nur unter Einbezug gleichzeitig vorhandener kindlicher wie elterlicher und familialer Schutzfaktoren wie z. B. sozialem Netzwerk, positivem Bewältigungsverhalten, Intelligenz etc. erfolgen.
Beispiel
Ein 3-monatiger Säugling wird wegen unstillbaren Schreiens vorgestellt. Das Baby ist das zweite Kind seiner Eltern, das ältere Kind hat sich unauffällig entwickelt. Aus der genaueren Anamnese wird deutlich, dass das Baby sogenannte schwierige Temperamentsmerkmale aufweist, leicht irritabel ist, wenig vorhersagbar in seinem Verhalten ist, wenig Rhythmizität in seiner Verhaltensregulation zeigt. Die Mutter ist sehr erschöpft und belastet, aber im Umgang mit dem Baby intuitiv kompetent, liebevoll und fürsorglich. Als das Baby während der Untersuchung anfängt zu schreien, gelingt es ihr nach einiger Zeit, es zu beruhigen, indem sie es zunächst ablenkt, um dann mit ihm in einen spielerischen Dialog einzusteigen. Das Vernachlässigungsrisiko ist in diesem Fall trotz der schwierigen Temperamentsmerkmale wegen der vorhandenen Ressourcen gering. Die Beratung kann auf die Entlastung der Mutter sowie die Unterstützung und Förderung der selbstregulatorischen Kapazitäten des Babys fokussiert werden.
Beispiel
Ein 5-monatiger Säugling wird wegen unstillbaren Schreiens und Schlafproblemen vorgestellt. Die Mutter beschreibt, sich völlig überfordert und hilflos zu fühlen, alles versucht zu haben, dennoch schreie das Baby bis zu vier Stunden am Stück. Manchmal habe sie das Gefühl, das Baby an die Wand werfen zu wollen, der kleine Balg habe es faustdick hinter den Ohren. Auch hier ergeben sich Hinweise auf ein schwieriges kindliches Temperament. Zusätzlich ist die mütterliche Biografie von eigenen Gewalterfahrungen geprägt. Während der Anamneseerhebung und in der Untersuchungssituation geht die Mutter mit dem Baby recht grob um, hebt es z. B. an einem Arm hängend vom Wipper auf die Untersuchungsliege. In der Untersuchungssituation wirkt der Säugling wenig gepflegt, das Gewicht liegt auf der dritten Perzentile, es fällt auf, dass die Mutter teilnahmslos, angespannt neben der Untersuchungsliege steht. Als das Kind aufgrund der Untersuchung schreit, stopft sie ihm nach einiger Zeit genervt den Schnuller in den Mund. Hier finden sich bereits konkrete Hinweise für eine Vernachlässigung, darüber hinaus besteht auch ein Risiko für eine Kindesmisshandlung. Die Mutter verfügt über keine ausreichenden Ressourcen. Die Interventionen müssen daher sehr viel komplexer konzipiert sein und die Information des Jugendamtes sowie die Einbindung der Frühen Hilfen einschließen.
3.3.5. Untersuchung und Befunderhebung
3.3.5.1. Anamnese
Hinweise für Vernachlässigung
Folgende Merkmale können bereits in der Anamnese auf eine Vernachlässigung hinweisen:
- Viele Risiken, ungenügende Ressourcen, z.B.:
- Eltern können sich trotz Belastungen nur unzureichend Hilfe holen, verfügen über keine ausreichend stützenden inner- und/oder außerfamiliären sozialen Beziehungen.
- Entwicklungsauffälligkeiten, z.B.:
- Hinweise auf kindliche Entwicklungsdefizite,
- Eltern fördern kindliche Entwicklungsbedürfnisse nicht ausreichend.
- Körperliche und seelische Grundbedürfnisse werden nicht ausreichend befriedigt, z.B.:
- Vermehrte Unfälle, mangelnde Gefahrenvermeidung.
- Eltern lassen unangemessenen Konsum von Genussmitteln zu (z. B. Tabak, Alkohol).
- Eltern lassen unangemessenen Medienkonsum zu, der die kindliche Entwicklung beeinträchtigt.
- Früherkennungsuntersuchungen werden nicht (ausreichend) wahrgenommen, angemessene Maßnahmen bei Krankheit nicht ergriffen.
- Ältere Kinder/Jugendliche: Eltern wissen nicht um den Aufenthalt des Kindes bzw. Jugendlichen.
- Desinteresse am Kind: Betreuung des Kindes wird häufig an andere Personen abgegeben.
Beispiel
Ein knapp 6-jähriger Junge wird von seinen Eltern in der Schuleingangsuntersuchung als schwierig beschrieben, er zeige diverse Ängste, habe soziale Probleme im Kindergarten, neige immer wieder zu Aggressionen. Die Eltern haben vier weitere Kinder, z. T. ebenfalls mit diversen Verhaltensproblemen, die Mutter ist berufstätig, chronisch überfordert. Die Nachfrage nach dem Medienkonsum der Kinder ergibt, dass der Junge ein Zimmer mit seinem 13-jährigen Bruder teilt, das mit Fernseher und DVD-Recorder ausgestattet ist. Der Junge sehe bis zu sechs Stunden am Tag fern, darunter auch Horror-Videos des älteren Bruders, oft schlafe er erst gegen 0 Uhr ein, wenn der Bruder den Fernseher ausmache. Die Mutter gibt an, der Fernseher im Zimmer des Jungen sei ihr ganz recht, so sei wenigstens halbwegs Ruhe, sonst würde es ja nur drunter und drüber gehen.
- Belastungen oder Einschränkungen des elterlichen Verhaltens
- Beginn der Elternschaft: unerwünschte Schwangerschaft, Partnerschaftskonflikte in der Schwangerschaft, mangelnde Gesundheitsvorsorge der Mutter in der Schwangerschaft, mangelnder Beziehungsaufbau zwischen Mutter und Kind in der Schwangerschaft etc.
- Elterliche Erziehungshaltungen und -praktiken: desinteressiertes oder feindselig-aggressives elterliches Verhalten, Erziehungsmethoden harsch-aggressiv, nicht an Alter und Bedürfnisse des Kindes angepasst, Zurückweisung oder Herabsetzung des Kindes, Sündenbockrollen-Zuschreibung, Lächerlichmachen des Kindes, Schuldzuschreibung.
- Mangelnde Selbst- und Fremdfürsorge: Eltern können nur unzureichend für sich selbst und andere sorgen.
- Belastete elterliche Biografie: Hinweise auf traumatische Erfahrungen in der elterlichen Biografie.
- Elterliche Empathie eingeschränkt, z.B.:
- Eltern können sich nur unzureichend in die Situation des Kindes einfühlen, nehmen kindliche Bedürfnisse und Signale nicht ausreichend wahr (mangelnde Feinfühligkeit).
- Eltern können nicht angemessen zwischen eigener und kindlicher Perspektive sowie Befindlichkeit differenzieren und wechseln.
- Eltern sind in erster Linie mit sich selbst beschäftigt, betonen eigene Belastungen und Opfer, die für ihr Kind zu erbringen sind. Kindliche Bedürfnisse werden zugunsten elterlicher Bedürfnisse vernachlässigt, das Kind ist für die elterliche Bedürfniserfüllung verantwortlich, Rollenumkehr.
- Hauptfürsorgeperson fühlt sich vom Kind abgelehnt.
- Projektion elterlicher Vorstellungen, Ängste, Aggressionen, feindseliger Fantasien in das Kind.
Beispiel
Ein 13-jähriger Junge kommt mit seinen Eltern zum Kinder- und Jugendarzt, nachdem er am Wochenende zuvor in der Kinderklinik wegen einer Alkoholintoxikation behandelt worden war. Der Blutalkoholspiegel betrug 1,8 Promille. Der 13-Jährige hat in seiner Freizeit regelmäßig Kontakt zu einer Clique Jugendlicher, in der exzessiv Alkohol, Haschisch und andere Drogen konsumiert werden. Die Eltern wissen nicht, wo sich der Junge außerhalb der Schule aufhält, Rückmeldungen aus der Schule ergeben, dass er die Schule nur unregelmäßig besucht. Auf die Situation angesprochen, zeigen beide Eltern keinerlei Verständnis dafür, dass sie in dieser Situation in ihren erzieherischen Aufgaben gefordert sind, meinen vielmehr, sie hätten schon seit Jahren aufgegeben, hier etwas zu versuchen, da ihr Sohn noch nie auf sie gehört habe. Er müsse seine eigenen Erfahrungen machen und aus diesen lernen, sie hätten genügend eigene Probleme. Ab einem gewissen Alter müsse schon jeder für sich selber sorgen.
3.3.5.2. Körperliche Untersuchung
Besonders gefährlich: Wachstums- und
Gedeihstörungen, gehäufte Unfälle
Zu achten ist insbesondere auf:
- Wachstums- und Gedeihstörungen,
- körperliche, kognitive oder sozial-emotionale Entwicklungsverzögerungen,
- mangelnde Pflege,
- Kleidung, die für die jeweilige Situation/Jahreszeit nicht angemessen ist,
- Hinweise auf gehäufte Unfälle, Verletzungen.
Beispiel
Ein 4-jähriger Junge wird wegen einer Schulterprellung vorgestellt. Die Mutter gibt an, der Junge sei in seinem Bewegungsdrang nicht zu bändigen. Am Vortag habe sie mit ihm zusammen in die Straßenbahn einsteigen wollen, im Gedränge habe sie den Jungen kurz aus den Augen verloren. Beim Einsteigen sei der Junge in die sich schließende Trambahntür geraten und habe sich die Schulter eingeklemmt, Passanten hätten ihm aus der Tür geholfen. Sie äußert sich vorwurfsvoll, dass das Ganze nur wegen dem Gedrängel der Passanten passiert sei. Auf eine weitere Schürfwunde im Unterschenkelbereich angesprochen, äußert die Mutter, das sei etwas Ähnliches wie die Schulterprellung, da sei der Junge auf der Bahnsteigkante auf dem Eis ausgerutscht und beim Einsteigen in die S-Bahn mit dem Bein kurz in den Spalt zwischen Tür und Bahnsteig gerutscht. Auf Nachfrage hatte die Mutter ihn auch in dieser Situation nicht an der Hand gehalten, ihm aber gleich aus dem Spalt geholfen. Die Mutter macht die Hyperaktivität des Jungen für die Unfälle verantwortlich und ist der Meinung, ein Vierjähriger sei doch wohl in der Lage, mit ihr zu laufen, ohne dass sie ihn ständig an der Hand halten müsse.
3.3.5.3. Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung
Beobachtung von konkreten
Verhaltens- und Interaktionsmustern
Neben Hinweisen aus der körperlichen Untersuchung eignet sich zur Einschätzung einer konkreten Vernachlässigung am besten die Verhaltensbeobachtung der primären Bezugsperson(en) in Interaktion mit dem Kind. Die Verhaltensbeobachtung kann bereits während der Anamnese sowie im Laufe der weiteren Untersuchungen erfolgen und durch die Beobachtung einer Pflegesituation (Wickeln, Füttern) sowie eines spielerischen Dialogs ergänzt werden. Auf folgende Merkmale sollte besonders geachtet werden:
Untersuchungssituation
Kind
- wirkt apathisch, passiv.
- zeigt regulatorische Probleme (nicht spezifisch):
- ist wenig vorhersagbar in seinem Verhalten.
- entgleist rasch, unvorhersehbar, kann sich unzureichend selbst regulieren.
- reagiert panisch, lässt sich nicht von der Bezugsperson trösten.
Bezugsperson (Mutter, Vater)
- verhält sich barsch, wenig einfühlsam.
- hält wenig Körperkontakt, zeigt wenig Freude, Zärtlichkeit im Umgang mit dem Kind.
- erkennt Gefährdungs- oder Grenzsetzungssituationen nicht ausreichend, reagiert in diesen nicht oder nur verzögert.
- kein bzw. unzureichendes Tröstungsverhalten.
Wickel-, Fütter- oder Spielsituation zwischen Eltern und Kind
Kind
- wenig Blickkontakt mit Mutter/Vater, Blickvermeidung.
- Dysphorie, Irritabilität, motorische Unruhe.
- Apathie, freudloser Affekt, mangelndes Lautieren, mangelndes Interesse an der Umgebung.
- Kind vermeidet Körperkontakt mit Mutter/Vater.
- Jactationen (Schaukeln), stereotype Bewegungen, Trichotillomanie (Haarezupfen).
Bezugsperson
- redet wenig, verhält sich wenig zärtlich/positiv im Umgang, wenig Lob/Bestärkung des Kindes.
- äußert sich vor allem negativ oder abwertend über das Kind, schreibt dem Kind wiederholt Schuld zu.
- Verhalten sehr wechselnd (emotional instabil/impulsiv), nicht ausreichend an kindliche Bedürfnisse in unterschiedlichen Situationen angepasst.
- verzögerte/fehlende oder nicht angemessene Reaktion auf kindliche Signale, emotional unzugänglich.
- unrealistische, nicht angemessene Erwartungen an das Kind, Rollenumkehr.
- Verhalten eher auf physische Aspekte konzentriert, wenig/keine Spielbereitschaft.
3.3.6. Dokumentation
Markante Äußerungen wörtlich notieren,
Untersuchungsbefunde genau beschreiben, evtl. fotografieren
Auffällige Befunde aus Anamnese, klinischer Untersuchung und Verhaltensbeobachtung sollten differenziert dokumentiert werden. Das Gedeihen sollte dabei anhand von Körpergewichts-Perzentilen, Körperlängen-Perzentilen und Body-Mass-Index (www.mybmi.de) dokumentiert werden. Dabei sollte zwischen bloßen Risikofaktoren (z. B. Armut, minderjährige Mutter etc.) und manifesten Anhaltspunkten für Vernachlässigung, die sich direkt und unmittelbar auf das Kind auswirken (z. B. Gedeihstörung, mangelnde elterliche Feinfühligkeit, feindselige Interaktionen etc.), unterschieden werden. Weitere Empfehlungen zur Dokumentation siehe Ziffer 4.2.10.
Befunde und Einschätzungen absichern
Eine Überprüfung der Einschätzung einer Vernachlässigung ist sinnvoll und notwendig. In Zweifelsfällen ist ein Austausch mit ärztlichen Kollegen oder weiteren Fachkräften über die erhobenen Befunde, offenen Fragen sowie das weitere Vorgehen ratsam. In diesem Zusammenhang besteht auch die Möglichkeit einer anonymisierten Beratung durch das zuständige Jugendamt oder die Kinderschutzambulanz am Institut für Rechtsmedizin der Universität München (siehe auch Ziffern 2.3.5. und 2.3.6.). Erst nach ausreichender Sicherheit und Differenziertheit in der Befunderhebung und -bewertung kann eine Beurteilung erfolgen, inwieweit gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindesvernachlässigung vorliegen und wie akut und unmittelbar die Gefährdung des Kindeswohles ist.
3.3.7. Fallmanagement bei Vernachlässigung
! Hinweis:
Zum konkreten Fallmanagement im Einzelnen siehe auch Kapitel 4, zu den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen interdisziplinärer Zusammenarbeit siehe insbesondere Kapitel 2.
Die meisten Fälle von Vernachlässigung können verhindert werden, wenn Eltern bereits in einem Stadium der beginnenden oder latenten Vernachlässigung durch geeignete Beratungs- und Unterstützungsangebote gezielt in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt werden. Um Tendenzen von Vernachlässigung entgegenzuwirken, ist es vor allem wichtig, frühzeitig auf solche Beratungs- und Unterstützungsangebote aufmerksam zu machen und bei den Eltern für deren Inanspruchnahme zu werben (im Einzelnen siehe Ziffer 2.3.). Kompetente Ansprechpartner für Frühe Hilfen sind die bei den Jugendämtern eingerichteten Koordinierenden Kinderschutzstellen (KoKi – Netzwerk frühe Kindheit, siehe hierzu unten sowie Ziffer 2.4.2.). Die Vermittlung an die Frühen Hilfen und deren Inanspruchnahme basiert auf Freiwilligkeit. Ein Eingriff in das Elternrecht erfolgt nicht.
Liegen dagegen gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung vor, so rückt das Elternrecht in den Hintergrund. Zur Abklärung der Gefährdung ist das Jugendamt unverzüglich einzubinden (siehe hierzu insbesondere Ziffern 2.3.4. und 2.4.3.).
Gefährdungseinschätzung
Grundsätzlich gilt: Je jünger ein Kind ist, und je akuter die Gefährdung ist, desto rascher und konsequenter muss zur Gefahrenabwehr gehandelt werden. Je nach Gefährdungseinschätzung ist daher abzuwägen, wie das Aufklärungs- und Motivationsgespräch (siehe unten) ablaufen sollte.
Bereitschaft von Eltern für Veränderungen
Für die mittel- und längerfristige Gefährdungseinschätzung ist auch die Beurteilung des elterlichen Veränderungspotenzials von Bedeutung:
- Können Eltern die Vernachlässigungs- und Gefährdungssituation einsehen, Verantwortung für das Problem übernehmen, und sind sie bereit, aktiv Hilfe zu suchen und anzunehmen?
- Sind sie in der Lage, verlässlich mit dem Hilfesystem zusammenzuarbeiten?
- Können Eltern konstruktiv mit kritischen Rückmeldungen bezüglich ihrer Kompetenzen umgehen?
- Wie sehr sind Eltern motiviert, ihr Verhalten konkret zu verändern?
Vertrauensvolles Aufklärungs- und Motivationsgespräch
Störungsfreie Gesprächssituation: Vor weiteren Schritten und Maßnahmen sollten die Feststellungen und Befunde mit den Eltern/der Familie gemeinsam in Ruhe besprochen werden. Ein solches Gespräch sollte nach Möglichkeit nicht gestört werden. Die Frage, inwieweit Befunde nur den Eltern oder auch den Kindern bzw. Jugendlichen (etwa in einem gemeinsamen Gespräch) mitgeteilt werden, hängt von ihrem Alter und der jeweiligen Gefährdungssituation ab.
Befunde und ihre Folgen konkret erläutern
Befunde und ihre Folgen aufzeigen: In dem Aufklärungs- und Motivationsgespräch sollten die erhobenen Befunde konkret beschrieben und dabei auch positive Feststellungen erwähnt werden. Unmissverständlich muss aber die Sorge bezüglich des Wohles und der Entwicklung des Kindes zum Ausdruck kommen. Befunde sollten neutral und nicht moralisierend oder verurteilend beschrieben und erklärt werden. Man sollte im Gespräch offen für Gegenpositionen der Eltern sein, Einfühlung in Belastungen der Eltern und mögliche Erklärungsversuche zeigen, aber dennoch die Gefährdungssituation des Kindes nicht aus dem Auge verlieren. Dysfunktionale elterliche Einstellungen, wie z. B. die Neigung, ihr Kind für Probleme verantwortlich zu machen, sollten nicht sofort korrigiert werden. Ärztinnen und Ärzte sollten zunächst vielmehr die Rolle übernehmen, grundlegende Bedürfnisse des Kindes stellvertretend zu formulieren, um dann zu bewerten, inwieweit die Eltern zu einer Beurteilung der Situation aus der Perspektive ihres Kindes in der Lage sind. Grundsätzlich gilt: Alles was dazu dient, mit den Eltern „im Kontakt“ zu bleiben und ihr Vertrauen sowie ihre Kooperationsbereitschaft zu sichern, ist wichtig, hilfreich und förderlich. Dabei darf der wirksame Schutz des Kindes allerdings nicht in Frage gestellt werden.
KoKi-Netzwerk frühe Kindheit
Um Risiken, insbesondere in der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben in den ersten besonders sensiblen Lebensjahren möglichst frühzeitig zu erkennen, die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken und ihnen notwendige Unterstützungsangebote zukommen zu lassen, sind in Bayern flächendeckend Koordinierende Kinderschutzstellen als wichtiger Bestandteil der familienunterstützenden Angebote der Jugendämter etabliert. Im KoKi – Netzwerk frühe Kindheit koordinieren sie die Hilfeangebote im Bereich der Frühen Hilfen durch eine enge und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und allen weiteren Professionen und Institutionen, die mit Kindern befasst sind (siehe insbesondere Ziffer 2.4.2. sowie www.koki.bayern.de).
Elterliche Maßnahmen aufzeigen
Oft lassen sich die Eltern bei entschlossenem, aber umsichtigem Vorgehen in eine vertrauensvolle Zusammenarbeit einbinden. Unterstützende Hilfen, etwa des Jugendamtes, werden dadurch bereitwilliger angenommen. Folgende Schritte sind sinnvoll und fördern eine kooperative Haltung der Eltern:
Jugendamt als Anbieter von Hilfen
In jedem Fall sollte klar formuliert werden, welche Maßnahmen aus ärztlicher Sicht zur Gefährdungsabwehr notwendig sind und was Ärztinnen und Ärzte davon selbst leisten können, z. B. zur Sicherstellung eines ausreichenden Gedeihens etc. Es sollte auch klargestellt werden, dass für darüber hinausgehende unterstützende Maßnahmen das Jugendamt von zentraler Bedeutung ist. Dabei ist es hilfreich, dieses in seiner Rolle als Anbieter von Hilfen und nicht in seiner Wächterfunktion hervorzuheben (im Einzelnen siehe auch Ziffer 2.3.).
Im Rahmen des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung ist das Jugendamt verpflichtet, die Personensorgeberechtigten sowie die Kinder bzw. Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz der Kinder bzw. Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Das Jugendamt hat den Personensorgeberechtigten die zur Abwendung der Gefährdung geeigneten und notwendigen Hilfen anzubieten (im Einzelnen siehe Ziffern 2.3.4. und 2.4.3.).
Jugendamt muss bei gewichtigen Anhaltspunkten
für Vernachlässigung zur Einschätzung der
Kindeswohlgefährdung hinzugezogen werden
Das Jugendamt ist kraft Gesetzes die zentrale Stelle, wenn es um die Klärung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährung und die Sicherstellung des Kindeswohls geht. Liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung vor, sind Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, das Jugendamt unverzüglich einzubeziehen. In diesen Fällen kann die Einbindung des Jugendamtes auch gegen den Willen der Eltern erfolgen. Um das Vertrauensverhältnis zu den Eltern nicht unnötig zu belasten, sollte die Weitergabe von Informationen an das Jugendamt in der Regel jedoch nicht ohne das Wissen der Eltern erfolgen. Mit den Eltern sollte daher zuvor grundsätzlich ein Aufklärungs- und Informationsgespräch geführt werden. Die Einbindung des Jugendamtes hat unverzüglich zu erfolgen, das heißt ohne schuldhaftes Zögern (im Einzelnen siehe Ziffer 2.3.4., vergleiche auch Art. 14 Abs. 6 GDVG).
Eine unmittelbare Gefährdung des Kindeswohls, die eine unverzügliche Einbindung des Jugendamtes erfordert, besteht insbesondere bei folgenden Befunden:
- Wachstums- und Gedeihstörung, die durch mangelndes Nahrungsangebot entsteht,
- unzureichende, aber notwendige ärztliche Versorgung und Behandlung,
- gesundheitsschädliche Hygienemängel,
- Gefährdung des Kindes oder Jugendlichen durch mangelnde Aufsicht oder mangelnden Schutz vor Gefahren,
- situationsübergreifendes apathisch-passives Verhalten von Säugling/Kleinkind.
Gewichtig sind ferner solche Anhaltspunkte, die zwar für sich alleine noch keine unmittelbare kindliche Gefährdung bedeuten, in der Kumulation mehrerer Faktoren allerdings eine unmittelbare Einbindung des Jugendamtes erforderlich machen, damit eine wesentliche Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung verhindert werden kann (insbesondere bei mangelnder Kooperationsbereitschaft der Eltern, im Einzelnen siehe Ziffer 2.3.4.).
3.3.8. Fallbeispiele aus der Praxis
Fallbeispiel 1
In der U4 fällt dem Kinder- und Jugendarzt auf, dass die 4-monatige K. auf dem Schoß der Mutter nicht auf Ansprache reagiert, kein soziales Lächeln zeigt und insgesamt recht apathisch ist. Während der Anamneseerhebung kommuniziert die Mutter in keiner Weise mit dem Baby. In der körperlichen Untersuchung des Kindes zeigen sich eine mäßige muskuläre Hypotonie und eine leichte allgemeine Entwicklungsverzögerung. Der internistische Status ist unauffällig, das Gewicht liegt zwischen der dritten und zehnten Perzentile. Als K. während der entwicklungsneurologischen Untersuchung anfängt zu schreien, steht die Mutter zunächst teilnahmslos daneben. Erst als der Arzt ihr das Kind gibt, fängt sie zögerlich an, es mechanisch zu streicheln. Sie wirkt dabei wie abwesend. Aus der Anamnese ist bekannt, dass die Mutter alleinerziehend ist, die Schwangerschaft nicht geplant war und sich die Eltern bereits in der Schwangerschaft getrennt hatten. Die Mutter beschreibt, nach der Geburt das Gefühl gehabt zu haben, mit K. nicht in Kontakt zu kommen. Sie fühle sich mit ihr innerlich nicht richtig verbunden. Sie könne auch nur schlecht schlafen, müsse sich zu allem überwinden und habe das Gefühl, keine Energie zu haben. Manchmal, wenn die Kleine unruhig sei, quengele oder schreie, habe sie das Gefühl, sie wolle nur ihren Willen durchsetzen. Dann müsse sie aufpassen, dass die Kleine ihr später einmal nicht auf der Nase herumtanze. Der Arzt äußert seine Sorge in Bezug auf das Verhalten und die Entwicklung von K. Er schlägt vor, einmal bei einer Füttersituation dabei zu sein, da K. recht zierlich wirke und ihn das Trinkverhalten interessiere. Die Mutter schildert daraufhin, die Kleine zeige nie, wenn sie Hunger habe. Auch jetzt sei es schon wieder über vier Stunden her, dass sie ihr Kind zuletzt gefüttert habe. In der Füttersituation fällt auf, dass K. nur langsam und mit größeren Pausen trinkt. Sie nimmt mit der Mutter Blickkontakt auf, diese erwidert ihn aber nur für einen Moment und blickt dann vor sich hin. K. blickt dann ihrerseits weg. Zwischen Mutter und Baby gibt es keine Kommunikation. Die Situation wirkt auf den Arzt, „als seien beide auf getrennten Planeten, jeder für sich alleine“. Nach circa 20 Minuten schläft K. ein, die getrunkene Milchmenge beträgt etwa 100 Milliliter.
Der Arzt erkennt eine Vernachlässigungssituation anhand der belasteten Anamnese und der auffälligen Interaktions- und Verhaltensstrukturen. Er dokumentiert die Befunde. Wegen der psychischen Auffälligkeiten der Mutter tauscht er sich mit einem psychiatrisch erfahrenen Kollegen aus und wird in seiner Vermutung einer mütterlichen Wochenbettdepression bestärkt. Hinsichtlich des Veränderungspotenzials der Mutter ist er zuversichtlich. Er führt zunächst ein Gespräch mit der Mutter, in dem er ihr die erhobenen Befunde, ihre Bedeutung sowie seine Sorge um die weitere Entwicklung von K. mitteilt. Die Mutter erscheint offen und die Vermutung einer Wochenbettdepression entlastet sie, da sie sich nun erklären kann, warum sie das Gefühl hat, mit K. nicht in Kontakt zu kommen. Mit der Empfehlung des Arztes, sich an einen niedergelassenen Psychiater zur Behandlung der Wochenbettdepression zu wenden (Adresse wird mitgegeben), ist sie einverstanden. Auf Empfehlung des Arztes setzt sie sich zudem mit der Koordinierenden Kinderschutzstelle (KoKi – Netzwerk frühe Kindheit) in Verbindung, um sich dort über Unterstützungsangebote der Frühen Hilfen zu informieren. Der Arzt berät die Mutter hinsichtlich der Anregungen, die K. im Alltag benötigt, und ermutigt sie, sich immer wieder mit ihr spielerisch zu beschäftigen, sie einfach zu beobachten, sie im Spiel z. B. nachzuahmen. Er berät die Mutter auch konkret zur Ernährungssituation, informiert sie darüber, wie oft und wie viel K. nach Möglichkeit täglich trinken solle. Ferner vereinbarte er mit der Mutter, dass sie sich mit dem Baby in drei Tagen wieder vorstellt, sie dürfe sich auch jederzeit vorher melden, wenn sie das Gefühl habe, dass mit K. etwas nicht stimme.
Fallbeispiel 2
Fast neun Monate ist T., als er von seiner jungen Mutter in der Kinderarztpraxis zur U5 vorgestellt wird, die eigentlich schon im siebten Lebensmonat hätte stattfinden sollen. Bei der U4 war ausweislich des gelben Untersuchungsheftes so weit noch alles in Ordnung, doch jetzt gibt schon der körperliche Zustand des Kindes Anlass zu großer Sorge. Sowohl die Körpergröße als auch das Gewicht weichen erkennbar vom alterstypischen Entwicklungsstand ab. T. hält kaum Blickkontakt zur Mutter, die ihn eher distanziert auf dem Arm hält. Viel habe sich getan in den letzten Monaten, berichtet diese auf Nachfrage des Arztes. Ein neuer Partner sei in ihr Leben getreten, und überhaupt habe sie sich nicht ganz so um den Kleinen kümmern können, wie sie sich das einmal vorgestellt hatte. In letzter Zeit schreie er auch immer häufiger und könne kaum noch beruhigt werden. Als der Arzt schließlich anhand des Hautbildes feststellt, dass ein gravierender Flüssigkeitsmangel vorliegt, entschließt er sich zu einer Einweisung in die Klinik zur medizinischen Notversorgung. Er ruft den Notarzt und bespricht die Situation mit der Mutter. Zudem informiert er das Jugendamt über die von ihm festgestellten gewichtigen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung und teilt diesem mit, in welche Klinik das Kind eingewiesen wurde.
Fallbeispiel 3
Bei der Einschreibung ihres 3-jährigen Sohnes wird die Mutter von der Erzieherin der Kindertagesstätte angehalten, wegen der erforderlichen Früherkennungsuntersuchung einen Kinder- und Jugendarzt aufzusuchen. Bereits im Wartezimmer fällt auf, dass von dem teilnahmslos wirkenden Kind ein derart extrem unangenehmer Körpergeruch ausgeht, dass alle anderen Patienten im Wartezimmer einen möglichst weit vom Kind entfernten Platz suchen. Bei der Untersuchung erkennt der Arzt, dass nicht nur die äußere Kleidung des Kindes ungepflegt ist, zum Teil mit eingetrockneten Resten von Erbrochenem, sondern auch die Unterwäsche mit Urin und Kot verschmutzt ist. Auf die Hygienemängel angesprochen, meint die Mutter, dass das Kind alt genug sei, sich täglich selbst zu waschen und wenn nötig auch die Kleidung zu wechseln. Im Übrigen könne sie sich auch nicht um alles kümmern. Sie arbeite den ganzen Tag, während der Vater des Kindes arbeitslos zu Hause auf der Couch vor dem Fernseher liege. Dies sei auch der Grund, warum das Kind kaum spreche und wenig Interesse an seiner Umwelt zeige. Die Mutter kann nicht überzeugt werden, dass sie für die Erziehung ihres Kindes Unterstützung und Hilfe benötigt. Der Arzt entschließt sich, die im Rahmen der Untersuchung festgestellten gewichtigen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung dem Jugendamt mitzuteilen.
Fallbeispiel 4
Das 12-jähriges Mädchen C. wird wegen einer akuten Alkoholintoxikation bewusstlos vom Rettungsdienst in die Kinder- und Jugendambulanz eingeliefert und auf der Intensivstation behandelt. Es wird ein Blutalkoholspiegel von 1,9 Promille festgestellt. Gegenüber dem behandelnden Arzt gibt C. an, dass innerhalb der Clique regelmäßig Spirituosen konsumiert würden und es seiner alleinerziehenden Mutter gleichgültig sei, wenn sie am Wochenende frühmorgens stark angetrunken nach Hause komme. Der psychologische Dienst der Klinik lädt daraufhin die Mutter zum Gespräch ein und weist sie auf das lebensgefährliche Verhalten der Tochter hin. Die Mutter entgegnet, sie könne ihrer Tochter doch nicht „alles verbieten“, vielmehr dürfe diese „auch einmal Spaß haben“. Zudem müsse sie selbst am Wochenende arbeiten und habe kaum Gelegenheit, auf ihr „großes Mädchen“ zu achten. Da eine schwere und anhaltende Selbstschädigung des Kindes durch Alkoholmissbrauch festzustellen ist und die Mutter der Selbstgefährdung ihrer Tochter erkennbar gleichgültig gegenübersteht, bindet die Klinik im unmittelbaren Anschluss an dieses Gespräch das Jugendamt ein.
! Hinweis:
Im speziellen Fall von Alkoholintoxikation liegt eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässig-ung vor, wenn Kinder oder Jugendliche aufgrund massiver oder wiederholter Selbstschädigung durch Alkoholmissbrauch medizinisch behandelt werden müssen und Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Personensorgeberechtigten nicht gewillt (Gleichgültigkeit) oder in der Lage (Überforderung) sind, ihrer Erziehungsverantwortung gerecht zu werden (siehe auch Ziffer 1.2. sowie Mitteilung im Bay. Ärzteblatt 4/2010). Weiterführende Informationen zum Alkoholmissbrauch durch Kinder und Jugendliche siehe www.jugendschutz.bayern.de.